Studie: Ist Purging eine eigene Form von Essstörung?
:format(webp)/cloudfront-eu-central-1.images.arcpublishing.com/madsack/JMWZW3QF7ZHPJEA6RVNEPSJZNA.jpg)
Amerikanische Forschende fordern, dass das Purging-Syndrom zur eigenständigen Diagnose werden soll.
© Quelle: imago images/Voyagerix
Egal, ob Magersucht, Bulimie oder Binge-Eating: Jede Art von Essstörung geht mit großem Leid für die Betroffenen einher. Und es dauert meist viel zu lange, bis diese Hilfe in Anspruch nehmen. Nun schlagen amerikanische Forschende vor, die Diagnosekriterien zu ändern: Das Purging-Syndrom, eine bisher weniger bekannte Form der Essstörung, soll demnach als eigenständige Krankheit gelten.
Beim Purging erbrechen die Betroffenen ihr Essen oder versuchen, aufgenommene Kalorien durch exzessiven Sport oder Abführmittel zwanghaft wieder loszuwerden. Doch anders als bei der klassischen Bulimie, die auch Ess-Brech-Sucht genannt wird, kommen beim Purging keine Heißhungerattacken mit „Fressanfällen“ vor, bei denen große Mengen an Essen verschlungen werden. Nach dem in Deutschland gebräuchlichen ICD-Code für medizinische Diagnosen wird Purging daher unter „nicht näher bezeichnete Essstörung“ eingeordnet, im amerikanischen Diagnosemanual DSM unter „andere Essstörungen“.
Nun fordern amerikanische Forschende, das zu ändern: Es handele sich um ein eigenständiges Krankheitsbild, das sich klar von der Bulimie abgrenzen lasse und vielleicht auch anders behandelt werden könnte, heißt es in einer Studie, die im „International Journal of Eating Disorders“ veröffentlicht wurde. Die Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen hatten in einer Langzeitstudie 84 Frauen mit den Symptomen einer Purging-Essstörung und 133 Frauen mit der Diagnose Bulimie befragt. Zweimal im Abstand von zehn Jahren sollten die Patientinnen Angaben zu ihrem Essverhalten, ihrer empfundenen Lebensqualität und psychischen Beeinträchtigungen machen.
Genauso belastend wie Bulimie
Die Befragung hatte ergeben, dass die Frauen mit Purging-Essstörung psychisch genauso stark belastet waren wie diejenigen mit Bulimie. Auch waren beide Krankheiten gleichermaßen hartnäckig: Mehr als die Hälfte der Frauen litt auch zehn Jahre nach der ersten Befragung immer noch an einer Essstörung. Das Krankheitsbild blieb dabei größtenteils unverändert. Nur wenige Frauen, bei denen zunächst Purging diagnostiziert worden war, litten später an Bulimie.
Die Ergebnisse würden zeigen, dass Purging keinesfalls weniger ernst zu nehmen sei als Bulimie, so die Autoren und Autorinnen. Zudem mache die Studie deutlich, dass es sich um ein eigenständiges Krankheitsbild handelt, das auch so diagnostiziert und therapiert werden sollte, fordern die Autoren und Autorinnen. Es habe in der Befragung zum Beispiel Hinweise gegeben, dass Frauen mit Purging eher die Wahrnehmung eines gesunden Sättigungsgefühls erlernen könnten als solche mit Bulimie.
Andreas Schnebel ist therapeutischer Leiter des Vereins Anad, der sich der Behandlung von Essstörungen widmet. Der Psychologe hat durch seine Arbeit schon viele Betroffene mit Purging-Syndrom kennengelernt. Auch er sagt: „Dass Purging mit einem hohen Leidensdruck einhergeht, steht außer Frage. Der Leidensdruck ist kein bisschen geringer als bei einer Bulimie, beides ist für die Betroffenen schrecklich.“
Wichtig ist, sich Hilfe zu holen
Dass Purging zu einer eigenständigen Diagnose werden soll, hält er hingegen nicht unbedingt für nötig. „Wichtig ist zwar, ein Störungsbild einordnen zu können, damit die Therapie von den gesetzlichen Krankenkassen bezahlt wird. Das ist aber mit der Diagnose ‚nicht näher bezeichnete Essstörung‘ möglich“, so Schnebel. In die gleiche Kategorie fällt bisher zum Beispiel auch eine Essstörung, bei der Betroffene ihr Essen nur kauen, aber es dann nicht schlucken, sondern sofort wieder ausspucken (auf englisch: Eating and Chewing Disorder oder ECD). Das „Binge-Eating“, das durch krankhafte Essanfälle gekennzeichnet ist, nach denen die Betroffenen aber nicht erbrechen, wurde hingegen bereits zur eigenständigen Diagnose ernannt, nachdem es lange unter nicht näher bezeichneten Störungen eingeordnet worden war.
In der Praxis machten solche Unterteilungen aber keinen großen Unterschied, sagt Schnebel: „Alle Essstörungen werden in ähnlicher Weise therapiert.“ Entscheidend sei dabei, nicht nur die jeweiligen Symptome, sondern die Grundstörung dahinter zu behandeln und die Lebenssituation anzuschauen. „Häufig leben Betroffene in einem psychisch ungesunden Umfeld“, so Schnebel.
Ein möglicher Vorteil könne es höchstens sein, wenn Menschen mit Purging durch eine eigenständige Diagnose eher erkennen, dass sie krank sind, so Schnebel. Bisher dauere es nämlich bei allen Formen der Essstörung zu lange, bis jemand eine Behandlung in Anspruch nimmt. „Generell gibt es das Problem, dass Menschen mit Essstörungen erst nach durchschnittlich sechs Jahren eine Therapie beginnen. Weil sie sich ihre Krankheit nicht eingestehen wollen oder weil diese nicht richtig erkannt wird.“ Und weil an Purging Erkrankte nicht die klassischen Kriterien einer Bulimie erfüllen, könnte es ihnen tatsächlich leichterfallen, zu ignorieren, dass sie an einer Essstörung leiden. „In jedem Fall gilt, dass eine Purging-Essstörung genauso ernst zu nehmen ist wie eine Magersucht oder Bulimie“, sagt Schnebel. „Daher ist es auch genauso wichtig, sich Hilfe zu holen.“