Sollten wir öffentlich um die Corona-Toten trauern?

Blumen liegen an frischen Gräbern auf dem Friedhof von Vila Formosa in Brasilien.

Blumen liegen an frischen Gräbern auf dem Friedhof von Vila Formosa in Brasilien.

Wenn in der Kleinstadt, in der ich aufgewachsen bin, jemand gestorben ist, fotografiert meine Mutter die Traueranzeige. Ich bekomme dann eine Whatsapp-Nachricht und erfahre, dass ein ehemaliger Nachbar, eine Frau, mit der ich vor 15 Jahren mal im Chor gesungen habe, oder die Mutter einer Schulkameradin nicht mehr leben. Manchmal steht die Todesursache in der Anzeige, manchmal kennt meine Mutter sie. Brustkrebs, Unfall, hohes Alter.

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Vor ein paar Wochen habe ich eine Whatsapp-Nachricht erhalten, die sich anders anfühlte. Dabei kannte ich den Menschen gar nicht persönlich, ein Bekannter von einem Bekannten, sehr jung gestorben. Doch plötzlich stand da zum ersten Mal dieses Wort: “Coronavirus”.

Die Corona-Toten sind vor allem eine Zahl

Weniger als 10.000 Menschen sind in Deutschland an einer Sars-CoV-2-Infektion gestorben. Das ist vergleichsweise wenig. In vielen anderen Ländern wie in Schweden und den USA sind – hochgerechnet auf die Einwohnerzahl – deutlich mehr Menschen daran gestorben. Es ist fast unmöglich, niemanden zu kennen, der an Krebs gestorben ist. Aber es ist sehr gut möglich, niemanden zu kennen, der an oder mit einer Coronavirus-Infektion gestorben ist. Ich kenne drei von ihnen beim Namen, aber nicht persönlich.

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Die Toten in der Corona-Krise sind in Deutschland bisher vor allem eines: eine reine Zahl. Eine weitere Möglichkeit, neben Neuinfektionen, R-Wert oder Zahl der Tests, das Ausmaß der Krise zu vermessen. Über Corona wird ständig berichtet, über Konjunktureinbrüche, die Anzahl der belegten Intensivbetten, die Maskenpflicht. Dabei haben all diese Maßnahmen nur ein einziges Ziel: die Zahl der Toten möglichst gering zu halten. Doch von ihnen, ihrem Schicksal, ihren Angehörigen liest und hört man kaum.

Braucht es eine öffentliche Trauerveranstaltung?

Eine öffentliche Trauer um die Corona-Toten gibt es in Deutschland kaum, stellte die “Spiegel”-Kolumnistin Margarete Stokowski bereits vor ein paar Wochen fest. Das war in der Vergangenheit bei großen Katastrophen anders. Für die Opfer des Germanwings-Flugs 9525 etwa gab es einen Staatsakt im Kölner Dom. Im Fall von Anschlägen, Naturkatastrophen oder Unfällen wird öffentlich der Verstorbenen gedacht. Ob bei großen oder – wie bei den Mahnwachen für im Straßenverkehr getötete Radfahrer – kleinen Gedenkfeiern.

Dass dieses öffentliche Gedenken im Fall von Corona bisher ausbleibt, führe vielleicht dazu, dass Menschen das Risiko der Pandemie unterschätzten, vermutet Stokowski. Die Menschen wären möglicherweise vorsichtiger, wenn “die Gesichter derer, die an Covid-19 gestorben sind, bekannter wären”. Sie befürchtet, dass die verdrängte Trauerarbeit bei dieser Katastrophe dazu führen könnte, dass man bei der nächsten Katastrophe “nicht unbedingt besser davonkommen” werde.

Spanien trauert öffentlich

In Spanien gab es im Juli eine öffentliche Trauerfeier. Sie war dazu gedacht, die bis zu dem Zeitpunkt 28.400 Toten zu ehren. Der spanische König Felipe VI., EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und zahlreiche weitere Politprominenz waren gekommen, um der Toten zu gedenken und den Helfern zu danken. Zahlreiche Tränen flossen. Braucht es in Deutschland eine ähnliche Geste? Könnte es auch den Angehörigen helfen, wenn Politiker, Geistliche und Angehörige zusammenkommen, um gemeinsam anzuerkennen: In dieser Krise haben Menschen ihr Leben verloren?

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Das wäre genau zu überlegen, meint die Wissenschaftlerin und Trauerberaterin Heidi Müller vom Trauerzentrum Frankfurt. Öffentliche Gedenkveranstaltungen könnten zwar der Anerkennung aller in dieser Zeit erlittenen Verluste dienen, aber mit der öffentlichen Darstellung von Trauer seien oft noch andere Interessen verbunden: Medien, die für ihre Berichterstattung Bilder brauchten, etwa. Ob dies im Sinne der Angehörigen ist, sei fraglich, sagt Müller. Auch die Trauerfeier in Spanien war nicht bloß ein Zeichen für die Angehörigen und die Bevölkerung, sondern auch ein deutliches Signal in Richtung Brüssel, wo kurz darauf die Corona-Hilfen der EU verhandelt wurden.

Weniger Rechnung

Doch was ist die Alternative? Wie sähe ein angemessener Umgang mit dem Tod in der Corona-Krise aus? Vielleicht einfach weniger quantitativ. Dass der Tod vor allem in Zahlen gemessen wird, lädt zum Vergleichen ein. Sind mehr als 9000 Tote “schlimm”? Oder angesichts von mehr als 200.000 jährlichen Krebstoten eigentlich gar nicht so dramatisch? Ist es unlogisch und unfair, dass jeden Tag die Corona-Toten vermeldet werden? Bei manchen Angehörigen stellt sich zumindest dieser Eindruck ein. “Klienten sagen zu mir: Warum sind die Corona-Toten so besonders? Mein Mann ist ganz plötzlich an einem Herzinfarkt gestorben und fehlt mir auch”, berichtet Müller aus ihrem Alltag in der Trauerberatung.

Sich auf Statistiken und Zahlen zu konzentrieren ist wichtig, um das Pandemiegeschehen im Blick zu halten. Doch Zahlen brauchten Kontext, sie müssten eingeordnet werden, sonst erzeugten sie falsche Vorstellungen, und wenn damit eine Bewertung der Todesursachen einhergehe, sei das problematisch, findet die Trauerberaterin: “Das eine ist nicht gegen das andere aufzuwiegen.” Vielleicht ist die Corona-Krise deshalb auch ein guter Anlass, um noch einmal ganz grundsätzlich über Trauer nachzudenken. Tatsächlich seien zahlreiche Vorstellungen, die in Deutschland über Verlustbewältigung vorherrschten, komplett veraltet, sagt Müller. Dazu gehört zum Beispiel die Idee der Phasenmodelle. Dass Menschen systematisch Phasen des Leugnens, Zorns, Verhandelns, der Depression und Akzeptanz durchmachten, sei nicht der Fall. Trotzdem orientieren sich viele Trauernde – und auch Fachkräfte wie Psychologen – weiter an diesem Schema.

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Ein neues Verhältnis zum Tod und zur Trauer

Dabei gibt es heute weitreichendere und empirisch belegte Erklärungsansätze. Dazu gehöre zum Beispiel das sogenannte duale Prozessmodell, das die Bewältigung als einen dynamischen Prozess beschreibt, in dem die Betroffenen zwischen verschiedenen Stressoren hin- und herpendeln, erklärt Müller. Ganz generell lässt sich sagen: “Trauer wird sehr individuell erlebt – pauschale Aussagen sind kaum möglich.” Wie lange und wie intensiv jemand trauert, das hängt von vielen verschiedenen Faktoren ab.

Der israelische Historiker Yuval Noah Harari hat sich unterdessen die Frage gestellt, ob die Corona-Krise das Verhältnis der Menschen zum Tod ändern wird. In einem Beitrag für den britischen “Guardian” beschreibt er, wie sich die menschliche Sicht auf den Tod im Zuge der wissenschaftlichen Revolution gewandelt hat – vom göttlichen Erlass, zum bloßen technischen Problem. Ein stolperndes Herz, ein sich ausbreitendes Krebsgeschwür, ein Virus, das sich in der Lunge reproduziert – das seien alles nur Probleme, die es ebenfalls technisch zu lösen gelte. Die große Aufgabe der großen Denker unserer Zeit bestehe darin, so Harari, das Leben immer weiter zu verlängern.

Der Tod ist kein Tabu – der eigene schon

Daran wird die Corona-Krise wohl nichts ändern. Im Gegenteil: “Covid-19 wird wahrscheinlich dazu führen, dass wir unsere Anstrengungen zum Schutz des menschlichen Lebens nur verdoppeln”, schreibt der Historiker. Doch was für die Gesellschaft gilt, muss seiner Meinung nach nicht für den Einzelnen zutreffen. Viele Menschen könnte die Krise für die “Unbeständigkeit des menschlichen Lebens” sensibilisieren, glaubt Harari. Oder einfach gesagt: Vielleicht denkt der ein oder andere inzwischen ganz anders über den Tod nach.

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“Der Tod an sich ist in unserer Gesellschaft kein Tabuthema”, sagt Müller. Um das zu erkennen, reicht ein Blick ins Abendprogramm der Fernsehsender. Der Gedanke, dass man selbst sterben könnte, liegt für die meisten Menschen allerdings sehr fern. “Wir sollten den Tod viel mehr in die Mitte des Lebens holen, ihn zu einem ganz normalen Gesprächsthema machen”, findet die Trauerberaterin. Die Corona-Krise sei auch eine Möglichkeit, über den eigenen Tod nachzudenken – und aus der eigenen Sterblichkeit Konsequenzen zu ziehen: “Ich denke dabei an Klienten, die mir erzählen, dass sie große Pläne bis zur Rente aufgeschoben haben. Und dann stirbt der Partner – und alle Träume sind weg.”


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