Rekord bei Corona-Inzidenz: Kommt über Weihnachten doch noch ein Lockdown?
:format(webp)/cloudfront-eu-central-1.images.arcpublishing.com/madsack/3HTT5AEE5BG35HPU6JPKRNLO2U.jpeg)
Wieder Kontakte beschränken? Angesichts der Infektionsdynamik wäre das sinnvoll.
© Quelle: Marcus Brandt/dpa
Statt normalem Alltag sollten im Privaten wieder soziale Kontakte reduziert werden. Darum bitten die Intensivmediziner und Intensivmedizinerinnen. Das empfiehlt auch das Robert Koch-Institut (RKI). Das bekannte Gebot zum freiwilligen Verzicht aus zweiter und dritte Welle ist damit bereits ausgesprochen.
Aber folgt darauf auch noch das Verbot von staatlicher Seite? Wird es bei weiter steigenden Infektionszahlen um Weihnachten und Silvester herum wieder lockdownähnliche Zustände geben, mit Schließungen ganzer gesellschaftlicher Bereiche wie Schulen und Restaurants, Kontakt- und Ausgangsbeschränkungen?
Nach den Plänen der Ampelparteien ist das nicht mehr vorgesehen. Mit Auslaufen der Pandemienotlage am 25. November seien pauschale Grundrechtseingriffe angesichts des Impffortschritts nicht mehr zu rechtfertigen, heißt es zur Begründung im Gesetzesentwurf. Verankert werden lediglich Maskenpflicht, Abstandsgebote, Quarantänepflicht für Infizierte, Wechselunterricht und 2G/3G. Aber reicht das aus, auch mit Blick auf Weihnachten?
Harte Maßnahmen wieder im Gespräch
Es sei nicht auszuschließen, „dass wir an Weihnachten wieder einen Lockdown haben könnten, wenn wir so weitermachen wie bisher“, sagte etwa vergangene Woche der Virologe Stephan Ludwig im RND-Gespräch. „Man muss jetzt schauen, wie sich die Lage weiter entwickelt“, so der Experte von der Universität Münster. Ein Lockdown sei ihm zufolge noch vermeidbar, bleibe aber im Bereich des Möglichen. Die Politik habe zwar gesagt, es wird keinen erneuten Lockdown geben. Aber „wenn die Krankenwagen vor den Kliniken Schlange stehen“, dann müssten Maßnahmen ergriffen werden.
„Ich hoffe nicht, dass wir bis zu einem erneuten Lockdown kommen“, sagte dem RND Ralf Bartenschlager, Vorsitzender der Gesellschaft für Virologie, und an der Universität Heidelberg ansässig. „Klar ist aber, dass wenn die Zahlen weiter steigen, die Einschränkungen für Ungeimpfte größer werden – beispielsweise durch die 2G-Regel.“
Deutschlands oberste Gesundheitsbehörde, das RKI, erachtete noch im Herbst einen flächendeckenden Lockdown wie im vergangenen Winter als eine wenig wahrscheinliche Option. Das Infektionsgeschehen müsse weiterhin durch Maßnahmen unter Kontrolle gehalten werden – „allerdings eher mit individuellen Maßnahmen als mit Schließungen von Einrichtungen oder Einschränkungen ganzer Gesellschaftsbereiche“, heißt es in einem im September veröffentlichten Strategiepapier zum Umgang mit der Winterwelle.
„Nein, wir brauchen wahrscheinlich nicht wieder so massive Maßnahmen wie im letzten Winter“, twitterte Anfang November auch die Physikerin Viola Priesemann vom Max-Planck Institut für Dynamik und Selbstorganisation, die zur Entwicklung des Infektionsgeschehens Modellierungen betrachtet. Das liege an den guten Impfstoffen und einer wesentlich besseren Immunisierung als im Vorjahr. Trotzdem sagt auch sie: „Deutliche Maßnahmen braucht es, wenn man die Hospitalisierung mindestens auf dem aktuellen Niveau stabilisieren will. Und noch etwas mehr, wenn man sie reduzieren will.“
Auch in der vierten Corona-Welle: Brennpunkt Intensivstation
Ob es härtere Maßnahmen als im Gesetzesentwurf vereinbart braucht, ist also eine strategische Entscheidung. Die Frage dahinter: Lässt man zu, dass sich viele Menschen mit Corona infizieren und in der Folge auch schwer an Covid-19 erkranken? Will man die Intensivstationen, Krankenhäuser, hausärztlichen Praxen über viele Wochen ans Limit oder sogar darüber hinaus bringen, damit das Personal noch mehr belasten also sowieso schon und die Gesundheitsversorgung der Bevölkerung gefährden? Oder will man die Belastung des Gesundheitswesens durch deutliche Maßnahmen konstant auf einem weitestmöglich planbaren Level halten und möglichst verringern?
Dass sich Deutschland bereits jetzt in einer explosiven Situation befindet, zeigt der RKI-Wochenbericht, der die Lage als „sehr besorgniserregend“ bezeichnet. Eine aktuelle Berechnung des Mathematikers Andreas Schuppert zusammen mit dem Vorsitzenden des DIVI-Intensivregisters, Christian Karagiannidis, macht zudem auf die erwartbaren Szenarien durch die steigende Zahl der Corona-Infizierten aufmerksam. Entspannung bis Weihnachten? Fehlanzeige.
Bundesweit sei nach derzeitigem Stand mit etwa 270.000 Patientinnen und Patienten zu rechnen, die im Zusammenhang mit Covid-19 potenziell intensivpflichtig werden könnten, schreiben Schuppert und Karagiannidis. Diese setzten sich aus 232.000 Nichtgeimpften und 38.000 Geimpften und Genesenen mit Grunderkrankungen, Immunschwäche und/oder hohem Alter zusammen. Im Durchschnitt belege eine schwer an Covid-19 erkrankte Person derzeit rund 20 Tage ein Bett.
Die Vorhersage zeigt, dass sich die Patientenzahl in den kommenden Wochen fast verdoppeln wird – wenn die Inzidenz weiter so steigt wie bisher und sich nicht nennenswert mehr Menschen für eine Impfung entscheiden. Man erwarte erneut mindestens 3500 Covid-19-Patienten auf den Intensivstationen. Aufgrund der unterschiedlichen Impfquoten sei mit erheblichen regionalen Unterschieden zu rechnen.
Eine Überlastung der Intensivstationen ist regional denkbar – und zeigt sich mancherorts schon jetzt. In stark getroffenen Regionen mit hoher Inzidenz und niedriger Impfquote wie Sachsen, Thüringen und Bayern werden bereits Operationen abgesagt und verschoben. Regional sind nur noch wenige oder keine freien Intensivbetten mehr vorhanden.
Welche Strategien, um den Lockdown zu vermeiden?
„Die entscheidende Frage wird sein, ob und wie der Aufwärtstrend gestoppt werden kann“, heißt es im Paper. Die empfohlenen Werkzeuge? Booster-Impfungen breitflächig ausrollen „und damit einen substanziellen Einfluss auf den R-Wert bekommen“, Kontaktbeschränkungen für Ungeimpfte in Form von 2G – und der freiwillige Verzicht auf Kontakte durch Geimpfte, Genesene und nicht Geimpfte. Vom flächendeckenden Lockdown ist hingegen nicht mehr die Rede.
Auch wenn es dauert, bis sich der Impfschutz aufbaut, bleibt noch ein weiteres Werkzeug: „Ein Schließen der Impflücke würde ein weitestgehend normales Leben ermöglichen (...)“, betonen Schuppert und Karagiannidis. Dass noch Luft nach oben ist, zeigen die aktuellen vom RKI gemeldeten Impfquoten: Rund 14,5 Prozent der über 60-Jährigen, 26,4 Prozent der 18 bis 59-Jährigen haben keinen Impfschutz. Bei den Zwölf- bis 17-Jährigen sind 57 Prozent nicht geimpft (Stand: 9. November).
Umfragen wie von Forsa machen zwar wenig Hoffnung, dass noch viele Menschen in diesen Tagen eine Impfung gegen Covid-19 wahrnehmen. Fachleute plädieren aber weiterhin dafür, mehr Energie in die Impfkampagne zu stecken. Man müsse intensiv Aufklärung betreiben, um wenigstens die noch Unentschlossenen von der Impfung zu überzeugen, sagt auch Virologe Bartenschlager. Die Impfung schützt weitgehend verlässlich vor schwerer Erkrankung, Intensivstation und Tod. Wer geimpft ist, steckt sich auch weniger wahrscheinlich an – und überträgt das Virus weniger leicht an andere weiter als ohne Grundimmunisierung.