Pathologin über Corona: Einige Patienten sterben am Virus – andere an einer Immunreaktion
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Das Coronavirus Sars-CoV-2 kann bei schwer Erkrankten massive Lungenschäden verursachen.
© Quelle: Fabian Strauch/dpa
Frau Mertz, Sie haben Lungengewebeproben von verstorbenen Corona-Patienten untersucht. Was haben Sie dabei herausgefunden?
Mir und meinen Kollegen ist sehr früh aufgefallen, dass es verstorbene Corona-Patienten gibt, die ganz massive Lungenschäden haben, während andere kaum oder gar keine Veränderungen aufweisen. Bei denjenigen war es schwer nachzuvollziehen, warum sie überhaupt gestorben sind. Denn ihre Lungen waren nicht so offensichtlich verändert, dass eindeutig ein Atmungsversagen als Todesursache infrage kam. Daraufhin haben wir RNA aus den Lungen extrahiert und Genexpressionsprofile untersucht. Das heißt, wir haben geschaut, welche Gene hochreguliert und welche herunterreguliert sind. Wir sind dabei auf die sogenannten Interferon-stimulierten Gene, kurz ISGs, aufmerksam geworden.
Was hat es mit diesen Interferon-stimulierten Genen auf sich?
Diese Gene sind Teil des angeborenen Immunsystems und werden beispielsweise durch Virusinfektionen hochreguliert. Interferon-stimulierte Gene zeigen eine stark aktivierte angeborene Immunreaktion an. Sie spielen auch bei Autoimmunerkrankungen eine entscheidende Rolle. Für uns war es einigermaßen erstaunlich, dass wir diese Gene im Zusammenhang mit Sars-CoV-2 gefunden haben. Denn es war zuvor publiziert worden, dass das neue Coronavirus im Vergleich mit anderen Viren eine eher geringe Stimulation der Interferon-stimulierten Gene auslöst.
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Die Schweizer Pathologin Kirsten Mertz hat bereits mehrere verstorbene Covid-19-Patienten untersucht.
© Quelle: Ronny_Nienhold
Wie haben sich diese Interferon-stimulierten Gene bei Patienten mit Sars-CoV-2 bemerkbar gemacht?
Bei unseren molekularen Untersuchungen haben wir zwei Gruppen von Corona-Patienten gesehen. Bei der ersten Gruppe konnten hochregulierte Interferon-stimulierte Gene nachgewiesen werden, aber kaum oder gar keine Veränderungen in der Lunge. Die zweite Gruppe hatte hingegen massive Lungenschäden, aber nicht so hoch regulierte Interferon-stimulierte Gene. Außerdem haben wir Unterschiede bei der Viruslast feststellen können: Patienten mit hochregulierten Interferon-stimulierten Genen hatten eine sehr hohe Viruslast in den Lungen. Die andere Patientengruppe wies wiederum kaum oder gar kein Virusmaterial in den Lungen auf.
Was bedeutet das?
Daraus, und aus den zugehörigen klinischen Verlaufsdaten der Patienten, haben wir geschlossen, dass es zwei Phasen während einer Covid-19-Erkrankung gibt. Am Anfang haben Patienten eine sehr hohe Viruslast in der Lunge, die in einigen Fällen tödlich sein kann. Das heißt, Infizierte sterben am Virus selbst. Und dann gibt es Patienten, die es schaffen, das Virus im Körper zu eliminieren, aber später an den Folgen einer überschießenden Immunreaktion sterben – und nicht mehr direkt am Virus.
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Wie können Sie nach dem Tod der Corona-Patienten überhaupt noch die Viruslast messen?
Wir haben das auf zwei Arten getan: Zum einen haben wir aus dem Lungengewebe RNA extrahiert. Da Sars-CoV-2 ein RNA-Virus ist, konnten wir es mit der extrahierten RNA und der PCR-Methode nachweisen. Zum anderen konnten wir es mit einer Gewebsfärbung nachweisen. Denn es gibt inzwischen Antikörper, mit denen man das Virus in den Lungen sichtbar machen kann. Mithilfe eines Farbstoffes können wir dann die Zellen sehen, die mit dem Coronavirus infiziert sind – und das sind vor allem Zellen, die die Lungenbläschen auskleiden. Das ist allerdings eine weniger empfindliche Nachweismethode. Deshalb kann diese nur bei Patienten angewendet werden, die eine hohe Viruslast in der Lunge aufweisen.
Wir haben bei einigen Patienten so eine Art Schocklunge gesehen.
Kirsten Mertz,
Pathologin am Schweizer Kantonsspital Baselland
Sie konnten bei Ihren Untersuchungen starke Lungenschäden nachweisen. Welche genauen Veränderungen waren das?
Wir haben bei einigen Patienten so eine Art Schocklunge gesehen, bei der die Auskleidung der Lungenbläschen innerhalb von ein paar Tagen kaputt geht. Außerdem waren in den Lungen Infiltrate von Immunzellen zu finden. Unserer Einschätzung nach bedeutet das, dass das Virus massiv Immunzellen wie zytotoxische T-Zellen oder Makrophagen in die Lunge lockt, die den Erreger eliminieren. Aber diese Immunzellen zerstören gleichzeitig auch das Gewebe.
Das heißt, der Körper greift sich in diesem Moment selbst an.
Im Prinzip ja. Das bedeutet, dass die Patienten mit massiven Lungenschäden nicht direkt am Virus sterben, sondern infolge der Immunreaktion, die im Verlauf der Viruserkrankung auftritt. Denn die Immunreaktion macht am Ende das Lungengewebe kaputt.
Warum sind diese Lungenschäden für Patienten tödlich?
Wenn die Lungenbläschen kaputt gehen, findet irgendwann kein Sauerstoffaustausch mehr statt – selbst mit künstlicher Beatmung nicht mehr. Das heißt, lebenswichtige Organe können nicht mehr richtig versorgt werden. Dann sterben die Patienten an einem Atmungsversagen.
Gibt es neben der Lunge noch andere Organe, die besonders anfällig für das Coronavirus sind?
Also die höchste Viruslast finden wir eben in der Lunge, der Luftröhre und dem Nasen-Rachen-Raum. Aber auch im Herzen, in der Schilddrüse, in der Niere und den Lymphknoten können wir Sars-CoV-2 nachweisen.
Können dort ähnlich massive Schäden auftreten?
Nicht ganz so massive Schäden wie in der Lunge, aber wir sehen auch Schäden im Herzen und in der Niere. Wir haben beispielsweise in der zweiten Krankheitsphase Entzündungsreaktionen in Form einer Myokarditis feststellen können – also einer Herzmuskelentzündung. Außerdem lag bei vielen verstorbenen Corona-Patienten eine gestörte Blutgerinnung vor.
Ist denn die Angriffsstrategie des Coronavirus in der Lunge auf andere Organe übertragbar?
Ja, ich denke schon. Wir haben zwischenzeitlich mit Folgestudien begonnen, wo wir uns das genau anschauen werden. Aber soweit ich das sagen kann, ist es tatsächlich so, dass Organschädigungen erst in der zweiten Krankheitsphase auftreten.
Die Zusammenfassung Ihrer Studie trägt den Titel „Molekulares Profil eines Killers“. Derzeit sterben allerdings weniger Menschen als noch im Frühjahr. Ist das Coronavirus immer noch derselbe Killer?
Ich denke schon. Was wir bis heute jedoch nicht wissen, ist, wen es schlussendlich trifft. Natürlich wissen wir, dass vor allem ältere Menschen und Personen mit Vorerkrankungen wie Diabetes oder einem gestörten Immunsystem ein erhöhtes Risiko für einen schweren Krankheitsverlauf haben, aber wir sehen auch immer wieder junge Patienten ohne Vorerkrankungen, die im Zuge von Covid-19 sterben. Also über die Tödlichkeit von Sars-CoV-2 kann ich nichts sagen, denn die Patienten, die ich sehe, sind schon alle tot.
Wir müssen noch ein bis zwei Wochen warten, um zu sehen, ob das Virus wirklich weniger tödlich ist.
Kirsten Mertz,
Pathologin am Schweizer Kantonsspital Baselland
Es stimmt zwar, dass die Mehrzahl der Patienten überlebt, aber es überleben nicht alle Patienten ohne Folgeschäden. Ich glaube nach wie vor: Sars-CoV-2 kann töten – und ist insofern ein Killer. Warum das Virus jetzt weniger tödlich ist, da gibt es unterschiedliche Theorien. Ich glaube beispielsweise, dass die Virusmenge, die wir einatmen, eine große Rolle für die Schwere des Krankheitsverlaufes spielt. Deshalb bin ich eine Befürworterin des Mund-Nasen-Schutzes. Das könnte ein Grund sein, warum jetzt weniger Menschen sterben, weil wir uns konsequenter schützen als noch im Frühjahr.
Aber wir sind jetzt mitten in der zweiten Welle, das heißt: Jetzt steigen jeden Tag die Zahlen auf Rekordhöhe und wir müssen noch ein bis zwei Wochen warten, um zu sehen, ob das Virus wirklich weniger tödlich ist. Denn die Patienten, die sich jetzt infizieren, kommen erst in zehn bis 14 Tagen in die kritische Phase.
Sie sprachen eben an, dass nicht alle Corona-Patienten die Infektion ohne Folgeschäden überstehen. Welche Langzeitfolgen sind denn bisher bekannt?
Die Lungenschädigungen, die wir in einigen verstorbenen Patienten beobachtet haben, treten wohl bei schwerem Krankheitsverlauf häufiger auf, jedoch sterben bei Weitem nicht alle Patienten daran. Ich bezweifele jedoch, dass diese starken Lungenschäden spurlos regeneriert werden können. Und dann wurden Schädigungsmuster des Herzmuskels in schweren oder tödlichen Covid-19-Verläufen beobachtet, die zu einer schweren Funktionsstörung des Herzens bis hin zu akutem Herzversagen führen können. Oder auch die verstärkte Blutgerinnung, die Thrombosen verursachen kann. Da muss man aber einfach sagen: Wir kennen jetzt Covid-19 seit knapp einem Jahr. Ich glaube, Studien über die Langzeitfolgen, die fundierte Ergebnisse liefern, werden erst in den nächsten ein bis zwei Jahren kommen.
Was bedeuten denn Ihre Ergebnisse im Kampf gegen das Coronavirus?
Wir glauben, dass das Wissen über diese zwei Krankheitsphasen bei der Behandlung von Covid-19-Patienten helfen kann. Denn in der ersten Phase haben Patienten mit schwerem Krankheitsverlauf eine hohe Viruslast und in der zweiten mehr Gewebeschäden. Sprich, es macht nur Sinn, Infizierte mit antiviralen Medikamenten wie Remdesivir zu behandeln, wenn diese in der ersten Phase der Erkrankung angewandt werden. Wenn die Patienten schon in der zweiten Phase sind und ihr Körper das Virus weitgehend eliminiert hat, dann haben sie von einer antiviralen Behandlung keinen so großen Nutzen mehr. Dann leiden sie unter den Folgen des aktivierten Immunsystems und nicht unter dem Virus. Das heißt, in der zweiten Phase könnte es dann sinnvoller sein, beispielsweise mit Komplement-Inhibitoren zu arbeiten.
Was sind Komplement-Inhibitoren?
Das Komplement meint eine Abfolge von Reaktionen des Immunsystems. Am Ende entsteht eine Art Klebstoff, der das Virus verklebt und gleichzeitig Immunzellen an den Infektionsherd lockt. Das Problem ist, wenn zu viel von diesem Klebstoff vorhanden ist, lagert sich dieser im Gewebe ab. Bei Patienten mit massiven Lungenschäden in der zweiten Krankheitsphase konnten wir sehen, dass sich in ihren Lungen Komplement abgelagert hat und viele Immunzellen in der Lunge waren. Die Komplement-Inhibitoren würden dann verhindern, dass sich der Stoff im Gewebe anreichert.
Bei den antiviralen Medikamenten haben Sie Remdesivir genannt. Die Weltgesundheitsorganisation hat sich vor wenigen Wochen aber dafür ausgesprochen, dass das Ebola-Medikament gegen das Coronavirus wenig wirksam ist.
Das stimmt, aber ich glaube, es macht nur Sinn, solche Aussagen zu tätigen, wenn man sich die genauen Zeitpunkte der Behandlung anschaut. Wenn Patienten, die in unterschiedlichen Krankheitsstadien sind, mit Remdesivir behandelt werden, wird ein großer Teil gar nicht auf das Medikament ansprechen, denke ich. Denn sobald die Viruslast geringer ist, macht es Sinn, dass Remdesivir gar nicht mehr wirksam ist. Es ist logisch, dass die klinischen Untersuchungen der Weltgesundheitsorganisation dann zu dem Ergebnis kommen, dass das Medikament keinen Nutzen hat. Denn die Patienten in späteren Krankheitsstadien leiden nicht unter der hohen Viruslast, sondern unter den Folgen. Das ist genau der Punkt. Deshalb glaube ich, dass unsere Ergebnisse relevant sind.
Welchen Stellenwert nimmt die Pathologie bei der Eindämmung der Corona-Pandemie ein?
Einerseits lernen wir wahnsinnig viel aus den Untersuchungen verstorbener Corona-Patienten. Als Pathologen können wir uns jedes Organ des Körpers anschauen. Über Autopsien lernen wir sehr viel über den Krankheitsverlauf von Covid-19 und die Todesursachen. Andererseits werden wir in Zukunft wahrscheinlich mit Folgeerscheinungen von Covid-19 konfrontiert sein.
In welchem Ausmaß diese Post-Covid-Syndrome auftreten werden, das müssen wir in den kommenden Monaten und Jahren sehen.
Kirsten Mertz,
Pathologin am Schweizer Kantonsspital Baselland
Die allermeisten Patienten überleben ja die Erkrankung, das heißt aber nicht, dass sie keine bleibenden Schäden davontragen können. Denn wir konnten durchaus Organschäden an den verstorbenen Patienten feststellen, von denen ich annehme, dass sie auch bei Patienten, die nach schwerem Krankheitsverlauf überleben, vorhanden und nur schwer regenerierbar sind. Bei Patienten mit kritischem Krankheitsverlauf und Lungenbeteiligung könnte es beispielsweise zu irreparablen Schäden der Lunge kommen. Ebenso darf nicht vergessen werden, dass kritisch erkrankte Covid-19-Patienten unter Umständen mechanisch beatmet werden müssen. Auch die Beatmung selbst kann mit einer Schädigung des Lungengewebes einhergehen.
Es könnte also sein, dass wir insgesamt in den Geweben zunehmend Folgeerscheinungen von Covid-19 diagnostizieren müssen. Das wird ein ganz neues Betätigungsfeld für die Pathologie sein, weil wir uns damit bisher nicht auskennen. Da werden wir alle dazulernen müssen. Aber in welchem Ausmaß diese Post-Covid-Syndrome auftreten werden, das müssen wir in den kommenden Monaten und Jahren sehen.