Modellierer rechnet vor: Wieso verschärfte Corona-Regeln vor Weihnachten wirksamer wären
:format(webp)/cloudfront-eu-central-1.images.arcpublishing.com/madsack/DH2IEEQDBREL3CAEYYZTUAOQQI.jpeg)
An Weihnachten gelten die neuen Corona-Regeln noch nicht.
© Quelle: Swen Pförtner/dpa
Private Treffen nur noch mit zehn Leuten, wenn alle geimpft oder genesen sind, Clubs machen zu, Großveranstaltungen sind tabu – Bund und Länder haben verschärfte Corona-Maßnahmen beschlossen. Das erklärte Ziel: Ansteckungen mit der Omikron-Variante verlangsamen, damit sich mehr Menschen boostern lassen. Allerdings sollen die Maßnahmen erst ab dem 28. Dezember greifen – also nach Weihnachten. Und das ist ein Problem, wie eine Modellierung des Mathematikers Jan Fuhrmann von der Universität Heidelberg verdeutlicht.
Aktuell ist unklar, wie viele Omikron-Infektionen es tatsächlich schon in der Bevölkerung gibt. Fachleute gehen von einer weit höheren Dunkelziffer aus als die 325 Verdachtsfälle, die im letzten Wochenbericht des Robert Koch-Instituts (RKI) mit Stand 15. Dezember berichtet wurden. Denn Forschende gehen inzwischen davon aus, dass es bei Omikron eine Verdopplungszeit von drei Tagen bei den Ansteckungen gibt. Sechs Tage bis zum Inkrafttreten der Beschlüsse reichten deshalb „für eine nochmalige Vervierfachung der Omikron-Infektionen ab jetzt“, erklärt Wissenschaftler Fuhrmann.
Omikron wartet nicht auf Weihnachten
Das zeigt sich dann auch in der Zahl denkbarer Ansteckungen. Ein Beispiel: „Nehmen wir mal vereinfachend an, wir hätten aktuell knapp 10.000 Omikron-Infizierte, die auch schon ansteckend sind. Bei sofortigem Umsetzen wirksamer Kontaktbeschränkungen wären wir dann Ende Januar vielleicht bei 50.000, während gleichzeitig die Infektionen mit der Delta-Variante deutlich zurückgingen“, rechnet Fuhrmann dem RND beispielhaft vor. „Verzögern wir jedoch das Einsetzen der Maßnahmen um nur eine Woche, dann haben wir bereits zu dieser Zeit die 50.000 Infizierten und kämen unter sonst gleichen Bedingungen Ende Januar bei circa 200.000 Fällen an.“
Dazu kommt, dass viele Fachleute Zweifel daran haben, ob die Beschlüsse überhaupt ausreichen, um den R-Wert unter die kritische Marke von eins zu drücken – also die Infektionsdynamik mit sehr schnell steigenden Fallzahlen zu stoppen. Selbst wenn das gelingen würde – so zeigt es das Modell –, gäbe es starke Unterschiede im Verlauf der Welle, wenn die Maßnahmen direkt umgesetzt würden statt nach den Feiertagen:
Wartet man damit, bis die Zahlen bereits deutlich gestiegen sind, so wird man deutlich härtere Maßnahmen brauchen, um sich ähnlich viel Zeit für andere Interventionen wie Impfungen erkaufen zu können.
Jan Fuhrmann,
Modellierer
Zwar basieren diese Simulationen auf sehr vielen stark vereinfachenden Annahmen. Sie sagen nichts darüber aus, inwiefern die beschlossenen Maßnahmen tatsächlich in den kommenden Wochen wirken werden, wie viele Ansteckungen es wirklich geben wird und mit wie vielen schweren Erkrankungen und Todesfällen zu rechnen ist. Auch die Zahl der mit Omikron Infizierten am Beginn der Simulation ist nur eine grobe Schätzung, die Infektionen mit der Delta-Variante wurden zudem komplett ignoriert.
Aber eine grundlegende Botschaft lässt sich daraus schon ableiten. Expertinnen und Experten aus der Epidemiologie haben darauf auch schon sehr oft in dieser Pandemie hingewiesen: Abwarten vergrößert nur das Problem. „Will man eine hochansteckende Krankheit durch Kontaktbeschränkungen bekämpfen, dann hat man die besten Chancen, wenn man diese Beschränkungen frühzeitig einführt“, erklärt Fuhrmann. „Wartet man damit, bis die Zahlen bereits deutlich gestiegen sind, so wird man deutlich härtere Maßnahmen brauchen, um sich ähnlich viel Zeit für andere Interventionen wie Impfungen erkaufen zu können.“
Neue Corona-Maßnahmen reichen wahrscheinlich nicht
Fachleute zweifeln zudem daran, ob die aktuell beschlossenen Kontaktbeschränkungen überhaupt ausreichen, um einen erneuten deutlichen Anstieg der Ansteckungen zu verhindern. Der Vorsitzende der Ständigen Impfkommission (Stiko), Thomas Mertens, hat sich bereits für umfassendere Kontaktbeschränkungen ausgesprochen. Angesichts der leichten Übertragbarkeit müssten „viel, viel mehr Kontaktbeschränkungen“ erfolgen als derzeit üblich – und zwar „sehr schnell“. Das RKI plädiert in einer aktuellen Einschätzung beispielsweise für die sofortige Schließung von Restaurants, nur absolut notwendige Reisen, eine Verlängerung der Weihnachtsferien für Schulen und Kitas.
Bringen die beschlossenen Maßnahmen von Bund und Ländern dann überhaupt etwas? „Eine Verlangsamung dieses Anstiegs ist aber immerhin zu erwarten, zumal die Kontakte am Arbeitsplatz oder in der Schule über Weihnachten und Neujahr ohnehin deutlich reduziert sind“, sagt Mathematiker Fuhrmann. Auch das helfe dabei, Zeit zu erkaufen, die für die Impfkampagne gebraucht werde.
Denn die neue Dynamik baut sich inzwischen auf – wenn auch noch nicht sichtbar in der Zahl der täglich vermeldeten Neuinfektionen. „Die Omikron-Welle zeigt sich in den aktuellen Zahlen bereits, man muss nur genau hinschauen“, sagt Fuhrmann. Wenn man nur die durch Sequenzierung von bestimmten und damit offiziell vom RKI bestätigten Fälle zähle, deute sich an, dass sich die Zahl der Omikron-Infektionen zuletzt ungefähr alle drei Tage verdoppelt habe. Er gehe davon aus, dass die neue Variante ohne eine deutliche Reduzierung der Übertragungen Delta bis Mitte Januar fast verdrängen werde.