Mathematiker zu Lockdown-Szenarien: Superspreading-Events an Weihnachten sind möglich

Ein kleines Stück Normalität: An Weihnachten und Silvester werden Familien im kleinen Kreis wahrscheinlich zusammenkommen können. Das könnte Auswirkungen auf die Dynamik beim Infektionsgeschehen in Deutschland haben.

Ein kleines Stück Normalität: An Weihnachten und Silvester werden Familien im kleinen Kreis wahrscheinlich zusammenkommen können. Das könnte Auswirkungen auf die Dynamik beim Infektionsgeschehen in Deutschland haben.

Wie lässt sich eine dritte Infektionswelle im Jahr 2021 vermeiden, worauf kommt es in der Weihnachtszeit an und sind Wellenbrecher-Lockdowns die einzige Möglichkeit, durch den Winter zu kommen? Es sind schwierige Fragen, auf die selbst Mathematiker mit Blick auf begrenzte Zahlen um Einschätzungen ringen.

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Einer von ihnen ist Jan Fuhrmann, der mit seinem Team am Forschungszentrum Jülich Szenarien zur weiteren Entwicklung des Coronavirus-Infektionsgeschehens in Deutschland errechnet. Der Physiker und Mathematiker zieht bei seinen Analysen auch einen Supercomputer zurate.

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Herr Fuhrmann, Sie versuchen mithilfe modellhafter Szenarien den Pandemieverlauf nachzuvollziehen. Welche Daten sind dafür relevant?

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Es gibt nicht die eine perfekte Datenquelle. Wir schauen auf bestätigte Fallzahlen, die Positivrate bei Tests, die Belegung der Intensivbetten, Todesraten und Bewegungsdaten. Die große Unbekannte ist die Dunkelziffer. Wir wissen, dass sie bei steigenden Infektionszahlen steigt. Aber eine zuverlässige Methode zum Errechnen gibt es nicht, gerade bei einer neuen Infektionskrankheit. Zumal viele Infektionen mit diesem Virus sehr mild oder gar asymptomatisch verlaufen, was die Detektion zusätzlich erschwert. Es ist aber im Bereich des Möglichen, dass es inzwischen fünf- bis sechsmal so viele Infektionen wie offiziell bestätigte Fälle in Deutschland gibt.

Die Ergebnisse der Simulationen, die Jan Fuhrmann im Interview vorstellt, sind das Resultat einer Gemeinschaftsarbeit des Cosimo (COVID-19-Simulation-und-Modellierung-)Teams, einer Kooperation des JSC am Forschungszentrum Jülich und des Frankfurt Institute for Advanced Studies (Fias). Federführend dort ist Dr. Maria Barbarossa.

Die Ergebnisse der Simulationen, die Jan Fuhrmann im Interview vorstellt, sind das Resultat einer Gemeinschaftsarbeit des Cosimo (COVID-19-Simulation-und-Modellierung-)Teams, einer Kooperation des JSC am Forschungszentrum Jülich und des Frankfurt Institute for Advanced Studies (Fias). Federführend dort ist Dr. Maria Barbarossa.

Können Sie Aussagen dazu treffen, wie wirksam der Teil-Lockdown bislang ist?

Unser Team schaut sich vor allem die Kontaktrate an. Sie beschreibt die Anzahl der Kontakte zwischen Infizierten und Nichtinfizierten pro Tag. Und diese Kontakte, bei denen Ansteckungen passieren, sind deutlich zurückgegangen – um rund 40 Prozent. Das muss aber nicht unbedingt eine ausschließliche Folge des Teil-Lockdowns sein.

Wieso?

Die Kontakte sind schon seit Mitte Oktober deutlich zurückgegangen. Aus unseren Modellen lässt sich vermuten, dass der Rückgang durch schon vorher ergriffene Maßnahmen auf kommunaler Ebene erklärbar ist, also beispielsweise Sperrstunden für Kneipen und verschärfte Maskenpflicht. Die Daten sprechen dafür, dass sich das Verhalten der Bevölkerung schon vor Beginn der verschärften Maßnahmen verändert hat. Wegen der dramatisch steigenden Fallzahlen haben anscheinend viele Menschen schon im Oktober mehr Vorsicht walten lassen und auf kritische Kontakte verzichtet.

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Weihnachten und Silvester: Corona-Fallzahlen im Blick

Selbst wenn einzelne Maßnahmen nur einen kleinen Beitrag leisten, könnten es genau diese Faktoren sein, die darüber entscheiden, wie schnell sich die Lage stabilisiert.

Warum redet die Politik dann über eine erneute Verschärfung der Regeln?

Das politisch gewollte Ziel könnte sein, bis Weihnachten die Infektionszahlen wieder so weit nach unten zu drücken, dass an den Feiertagen keine sehr harten Kontaktbeschränkungen gelten müssen, um unter die Zielmarke von 50 neuen Fällen pro 100.000 Einwohnern und sieben Tagen zu kommen beziehungsweise darunterzubleiben. Um das zu schaffen, sind die derzeitigen Kontaktreduktionen aber noch zu gering. Die Fallzahlen sinken für diese Zielsetzung nicht schnell genug, weshalb über Verschärfungen gesprochen wird.

Die zentrale Frage bei der Beurteilung der Corona-Maßnahmen ist also: Was ist das Ziel?

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Genau. Wenn die Kontaktrate auf dem Novemberniveau bleibt, ist zwar davon auszugehen, dass die Fallzahlen langsam weiter sinken. Das System reagiert aber sehr sensibel auf kleinste Veränderungen. Selbst wenn einzelne Maßnahmen nur einen kleinen Beitrag leisten, könnten es genau diese Faktoren sein, die darüber entscheiden, wie schnell sich die Lage stabilisiert. Der Teil-Lockdown hat dazu sicher auch beigetragen.

Bund und Länder wollen wieder auf 50 Neuinfektionen auf 100.000 Einwohner pro Woche kommen. Ist das realistisch?

Es ist im Moment sehr schwer, einzelne Effekte von Maßnahmen und das Verhalten der Bevölkerung abzuschätzen. Durch den Zusammenbruch der Kontaktnachverfolgung, eine veränderte Teststrategie und eine wachsende Dunkelziffer ist es schwer vorherzusagen, wie schnell die Infektionszahlen in naher Zukunft sinken werden.

Unsere aktuellen Berechnungen deuten aber darauf hin, dass, wenn alles so bleibt wie jetzt, frühestens Mitte Dezember der Wert von 50 Neuinfektionen auf 100.000 Einwohner innerhalb einer Woche erreicht wird. Wahrscheinlich ist, dass es noch länger dauert. Natürlich immer unter der Annahme, dass sich das Verhalten der Bevölkerung nicht verändert – und damit die Kontaktrate. Bei einem Infektionsgeschehen auf diesem Niveau ist davon auszugehen, dass die Kontaktnachverfolgung durch die Gesundheitsämter wieder gut funktioniert.

Weihnachten als Superspreading-Event?

Es ist davon auszugehen, dass die Menschen im Privaten weniger auf Abstands- und Hygieneregeln achten und unvorsichtig werden.

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Mal angenommen, die Zahlen sind bis dahin niedrig und die Nachverfolgung klappt wieder: Ist das Familientreffen an Weihnachten aus epidemiologischer Sicht eine gute Idee?

Es kann sein, dass es gerade über die Feiertage wieder zu mehr Infektionen kommt. Das wäre dann frühestens im Januar sichtbar. Dann müssen wir mit deutlich höheren Fallzahlen rechnen. Es ist aber noch nicht ganz klar, wie genau sich dieser Weihnachtseffekt auf das Infektionsgeschehen im Ganzen auswirkt. Einerseits gibt es im Privaten viele Kontakte und die Gesundheitsämter sind an den Feiertagen womöglich nicht 24 Stunden am Stück besetzt. Andererseits fallen anderswo Kontakte weg: Die Schulen haben in den Ferien geschlossen, viele Betriebe arbeiten nur mit halber Belegschaft.

Kommt es nur auf die Anzahl der Kontakte an oder auch auf das Verhalten während des Weihnachtsfestes?

Es ist davon auszugehen, dass die Menschen im Privaten weniger auf Abstands- und Hygieneregeln achten und unvorsichtig werden. Dem Virus ist es aber egal, ob sich die angereisten Familienmitglieder gut kennen. Je größer die Gruppen, desto größer die Wahrscheinlichkeit, dass ein kleines Superspreading-Event entsteht. Befindet sich beim weihnachtlichen Abendessen unter 30 Gästen eine hochansteckende Person, könnten danach 15 weitere Personen infiziert sein. Wenn aber alle freiwillig im Privaten Abstand halten, nur im kleinen Kreis feiern und regelmäßig lüften, könnte der befürchtete Anstieg der Fallzahlen im Januar auch ausbleiben.

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Dritte Welle? Nicht nur Wellenbrecher-Lockdown als Option

Wir sehen im Moment, dass das Herunterbringen der Fallzahlen in nur wenigen Wochen offensichtlich nicht so einfach ist wie zunächst angenommen.

Ein gewagter Blick ins Jahr 2021: Müssen wir uns auf weitere Wellenbrecher-Lockdowns einstellen?

Eine dritte Welle ist nahezu unvermeidbar, wenn wir im Januar wieder auf unsere Kontaktraten von Anfang Oktober zurückkommen. Es kann dann mit weiteren Wellenbrecher-Lockdowns reagiert werden, bei denen die Kontakte für einen gewissen Zeitraum sehr stark reduziert werden. Ich bin aber unsicher, ob man durch einen harten Lockdown ein Niveau erreicht, auf dem man sich auf Dauer ausruhen kann.

Wir sehen im Moment, dass das Herunterbringen der Fallzahlen in nur wenigen Wochen offensichtlich nicht so einfach ist wie zunächst angenommen. Harte Lockdowns bergen auch die Gefahr, dass die Akzeptanz in der Bevölkerung für Maßnahmen schwindet. Es ist danach auch nicht damit zu rechnen, dass die Fallzahlen konstant niedrig bleiben. Deutschland ist nun mal keine Insel wie Australien und auch kontaktfreudiger als Asien.

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Was wäre die Alternative?

Das zweite Szenario sieht vor, sich langfristig auf einige Grundregeln und Maßnahmen zu einigen und an die Bevölkerung zu appellieren – wie Mitte Oktober geschehen. Bei diesem Szenario wird sehr stark auf das individuelle Verhalten jedes Einzelnen gesetzt. Dann gibt es zwar weniger stark fallende Infektionszahlen. Aber das Geschehen pendelt sich längerfristig auf einem niedrigeren Niveau als jetzt ein. Auch das würde Krankenhäuser und Gesundheitsämter entlasten, würde zu weniger schweren Erkrankungen führen.

Welche Grundregeln sind bei so einer Strategie unerlässlich?

Ich bin kein Virologe und kein Mediziner, sondern kann hier nur aus zweiter Hand Ideen vortragen. Die verschärfte Maskenpflicht könnte beispielsweise beibehalten werden. Ein Beispiel: Die Maske könnte nicht nur im Geschäft, sondern auch in der Warteschlange vor dem Laden getragen werden. Im öffentlichen Raum könnte noch mehr Abstand gehalten werden. Auch im Privaten könnten wir noch mehr auf Abstand gehen und bei Treffen mit Freunden auf gute Belüftung achten. Arbeitgeber könnten ihre Mitarbeiter schon bei kleinsten Anzeichen von Hüsteln für eine Woche nach Hause schicken.

2021: Impfstoff und Temperatureffekt als Perspektive

Die Impfung wird uns sicherlich im nächsten Winter helfen.

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Und so eine Strategie könnte die befürchtete dritte Welle aufhalten?

Grobe Vorhersagen lassen sich maximal für zwei bis drei Wochen in der Zukunft machen. Ob solche Maßnahmen ausreichen, ist also nicht vorhersagbar. Ende Dezember, Ende Januar, Ende Februar: Das Timing der dritten Welle hängt weiterhin sehr stark davon ab, wie die Kontaktrate ausfällt, also wie die Menschen sich verhalten.

Immerhin ist auf Temperatureffekte und einen Impfstoff zu hoffen.

Genau, den Wettereffekt berechnen wir in unsere Szenarien mit ein. Das Virus breitet sich sehr wahrscheinlich weniger schnell aus, auch Kontakte verlagern sich mehr ins Freie. Den Impfstoff berücksichtigen wir bei unseren Berechnungen allerdings noch nicht. Die Wirkung wird sich wahrscheinlich noch nicht im Frühjahr zeigen. Wir wissen auch noch nicht genug über die Mittel. Aber die Impfung wird uns sicherlich im nächsten Winter helfen.

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