„Freedom Day“ verschoben: Was das für die Corona-Lage in Deutschland bedeutet
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Seit dem 4. März dürfen Clubs und Diskotheken in Deutschland mit der 2G-plus-Regel wieder öffnen.
© Quelle: Henning Kaiser/dpa
Die bundesweite Sieben-Tage-Inzidenz in Deutschland hat am Dienstagmorgen ein neues Rekordhoch erreicht: Sie liegt jetzt bei 1607,1. Auch die Zahl der Neuinfektionen steigt mittlerweile wieder kontinuierlich. Das Robert Koch-Institut (RKI) erfasste zuletzt innerhalb eines Tages mehr als 262.593 neue Infektionen mit dem Coronavirus. Die Zahlen zeigen: Das Infektionsgeschehen bleibt angespannt. Eigentlich sollten am 20. März weitreichende Lockerungen in Kraft treten, doch die Länder scheinen nun größtenteils bis zum 2. April an den aktuellen Corona-Auflagen festhalten zu wollen. Was bedeutet das für die weitere Entwicklung?
Schon im Frühjahr 2021 macht sich Deutschland schrittweise locker
Dass Deutschland im Frühjahr über Lockerungen diskutiert, ist keineswegs neu. So war es auch schon im vergangenen Jahr – damals waren die Infektionszahlen jedoch im Sinkflug, anders als jetzt. Ein kurzer Rückblick: Nach der Winterwelle mit der Virusvariante Alpha und einem Lockdown hatten sich die damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel und die Ministerpräsidentinnen und Ministerpräsidenten der Länder auf schrittweise Lockerungen geeinigt. Das Ergebnis war ein fünfteiliger Stufenplan gewesen.
Den Anfang hatten am 1. März 2021 die Schulen, Kitas und Friseure gemacht, die wieder in den Regelbetrieb zurückgekehrt waren. Am 8. März hatten schließlich Buchhandlungen, Blumengeschäfte und Gartenmärkte (mit entsprechenden Hygienekonzepten und einer Begrenzung der Anzahl von Kunden und Kundinnen) öffnen können, ebenso wie körpernahe Dienstleistungen und Fahr- und Flugschulen. Die weiteren Öffnungsschritte waren dann von der jeweiligen Sieben-Tage-Inzidenz abhängig gewesen: Als Richtwerte hatten Bund und Länder eine Inzidenz von unter 50 beziehungsweise unter 100 pro 100.000 Einwohner und Einwohnerinnen binnen sieben Tagen festgelegt. War die Inzidenz 14 Tage konstant geblieben, waren die nächsten Öffnungsschritte möglich gewesen.
Alle diese Lockerungen waren mit der sogenannten Notbremse verbunden: War die Sieben-Tage-Inzidenz an drei aufeinanderfolgenden Tagen auf über 100 gestiegen, waren ab dem zweiten darauffolgenden Werktag die Regeln, die bis zum 7. März gegolten hatten, wieder in Kraft getreten. Die Notbremse war Ende April schließlich auch im Infektionsschutzgesetz verankert worden und hatte zum Beispiel nächtliche Ausgangsbeschränkungen zugelassen. Eine Osterruhe zwischen dem 1. und 5. April 2021, wie sie Bund und Länder bei einer gemeinsamen Konferenz Ende März beschlossen hatten, war kurze Zeit später hingegen wieder zurückgenommen worden.
Wie geht es in den Ländern nach dem 20. März nun weiter?
Auch in diesem Frühjahr setzen Bund und Länder auf eine schrittweise Öffnungsstrategie – aber eben bei steigenden Infektionszahlen. Statt fünf sind es dieses Mal nur drei Stufen. Die Lockerungsschritte sind – anders als noch 2021 – nicht an die Sieben-Tage-Inzidenz gekoppelt. Ziel war es eigentlich, am 20. März Zugangsbeschränkungen wie die 2G- und 3G-Regeln sowie die Homeoffice-Pflicht zu beenden und nur noch Basisschutzmaßnahmen wie eine Maskenpflicht im öffentlichen Personenverkehr und medizinischen beziehungsweise pflegerischen Einrichtungen beizubehalten.
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© Quelle: dpa
Es wäre das erste Mal im Verlauf das Pandemie gewesen, dass Deutschland Maßnahmen lockert, während sich jeden Tag mehr und mehr Menschen mit dem Coronavirus infizieren. Doch wegen der hohen Inzidenzen und Todeszahlen sehen die Länder nun größtenteils von weitreichenden Öffnungsschritten ab. In Bayern beschloss das Kabinett am Dienstag beispielsweise, dass es bis zum 2. April bei den bisherigen 2G- und 3G-Zugangsregeln und Maskenpflichten auch in Schulen oder im Handel bleiben soll. Auch Baden-Württemberg will die Übergangsfrist nutzen. Thüringen, Sachsen und Brandenburg wollen von der Regelung ebenfalls Gebrauch machen. Berlin und das Saarland wollen die bisherigen Maßnahmen bis 31. März beibehalten.
Die Gründe für den geplanten „Freedom Day“
Für den geplanten „Freedom Day“ am 20. März gab es gleich zwei Erklärungen: Zum einen ist ein Großteil der Bevölkerung gegen Covid-19 geimpft. 75,7 Prozent der Deutschen haben zwei Impfungen erhalten, knapp 58 Prozent sind sogar schon geboostert. Die Immunität der Menschen, beziehungsweise der Schutz vor schweren Krankheitsverläufen und Todesfällen, ist also höher als noch 2021, als die Impfkampagne gerade erst begonnen hatte.
Zum anderen ist mit Omikron eine Virusvariante vorherrschend, die seltener zu schweren bis tödlichen Covid-19-Erkrankungen führt. Das Risiko einer Überlastung der Intensivstationen durch eine Vielzahl schwer kranker Covid-19-Patientinnen und ‑Patienten ist also gesunken.
Situation in den Kliniken bleibt angespannt
Ein harmloseres Virus und eine hohe Impfquote – so gut, wie sich diese Entwicklung anhört, ganz so einfach ist die aktuelle Corona-Lage in Deutschland jedoch nicht. Denn dass Menschen, die sich mit Omikron anstecken, seltener hospitalisiert werden müssen, bedeutet nicht, dass die Belastungen in den Kliniken deutlich zurückgegangen sind.
Die Zahl der Covid-19-Intensivpatientinnen und ‑patienten verharrt auf einem hohen Niveau. Besonders die Normalstationen sind während der Omikron-Welle gefordert. Das RKI gibt die Sieben-Tage-Inzidenz der hospitalisierten Covid-19-Fälle aktuell mit 7,21 pro 100.000 Einwohner an. Bei der hohen Zahl an Neuinfektionen ist davon auszugehen, dass bald noch mehr Menschen in den Krankenhäusern behandelt werden müssen.
Zwar verursacht Omikron eher milde Verläufe, aber es gibt immer einen Teil von Infizierten, der schwer erkrankt. Ein besonders hohes Risiko für schwere bis tödliche Krankheitsverläufe haben ältere ungeimpfte Menschen, wie eine Analyse der „Financial Times“ zeigt, die Daten der Johns-Hopkins-Universität aus Hongkong und Neuseeland verglichen hatte. Nach Angaben des Bundesgesundheitsministeriums sind allein in der Altersgruppe der über 60-Jährigen noch rund drei Millionen nicht gegen Covid-19 geimpft. Mit den Lockerungen könnten sie in den Fokus des Infektionsgeschehens rücken.
Quarantäne und BA.2 bereiten Probleme
Hinzu kommt, dass Omikron deutlich ansteckender ist als alle Vorgänger. Es infizieren sich also viele Menschen in kurzer Zeit, die sich dann isolieren beziehungsweise deren Kontaktpersonen in Quarantäne müssen. Diese Umstände könnten bald für die Krankenhäuser zum Problem werden: „Immer mehr Krankenhausbeschäftigte fallen wegen Krankheit oder Quarantäne aus“, sagte der Vorstandsvorsitzende der Deutschen Krankenhausgesellschaft, Gerald Gaß, vor wenigen Tagen dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND). „In einigen Bundesländern müssen bereits Reservekliniken genutzt werden, weil die normalen Kliniken nicht mehr aufnehmen können.“
Und dann ist da noch die Omikron-Schwestervariante BA.2, die hierzulande für immer mehr positive Corona-Tests verantwortlich ist. Das Problem: Viel ist über diese Corona-Version noch nicht bekannt. Internationale Studien deuten darauf hin, dass sie noch ansteckender ist als die jetzt dominierende Omikron-Variante, BA.1, was eine sechste Infektionswelle mit rekordhohen Fallzahlen zur Folge haben könnte. Ob BA.2 auch für mehr schwere Krankheitsverläufe sorgt, ist nach wie vor ungewiss.
Epidemiologe: „Freedom Day“ am 20. März ist „völlig falsch“
Entsprechend kritisch hatten Corona-Expertinnen und ‑Experten auf die Lockerungen geblickt. „Die geplante völlige Aufhebung der Schutzmaßnahmen zum 20. März wäre völlig falsch“, sagte Timo Ulrichs, Epidemiologe von der Berliner Akkon-Hochschule für Humanwissenschaften, vergangene Woche dem RND. „Bis dahin werden wir keinen stabilen Abwärtstrend haben. Eine solche Aufhebung, ein ‚Freedom Day‘, würde zusätzlich zu einer Verbreiterung der Omikron-Welle führen – bis hin zu einer Plateausituation.“ Vielmehr müsse man Maßnahmen teilweise wieder verschärfen.
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Priesemann: BA.2-Welle mit Sieben-Tage-Inzidenz von 2000 möglich
Wenn die Länder nun größtenteils an den Corona-Maßnahmen festhalten wollen, wie wird sich dann das Infektionsgeschehen weiter entwickeln?
Genaue Vorhersagen lassen sich zurzeit nicht treffen. Klar ist: Eine BA.2-Welle ist unvermeidbar, weil die Virusvariante leichter übertragbar ist, und mit den jetzt vorhandenen Maßnahmen lässt sich die Corona-Lage eher unter Kontrolle bringen als mit weitreichenden Lockerungen. Für Modelliererinnen und Modellierer gibt es zurzeit vor allem zwei Ungewissheiten: Wie groß ist die Immunität der Bevölkerung gegen BA.2? Bisher legen Daten aus Dänemark nahe, dass es durchaus möglich ist, sich mit BA.1 und BA.2 nacheinander zu infizieren. Und wie geht es mit den Lockerungen weiter?
Mit Lockerungen sind in diesem Fall nicht nur die gesetzlichen, von Bund und Ländern festgelegten Öffnungsschritte gemeint, sondern auch das individuelle Verhalten der Bürgerinnen und Bürger. Beides hat Auswirkungen auf den R‑Wert, also auf die Zahl der Menschen, die eine infizierte Person im Schnitt ansteckt. „Wenn die Lockerungen gering ausfallen, dann kann die BA.2-Welle im Bereich von einer Wocheninzidenz von 2000 ihr Maximum haben“, schrieb Physikerin und Modelliererin Viola Priesemann vom Max-Planck-Institut für Dynamik und Selbstorganisation in Göttingen am Dienstag auf Twitter deutlich. „Wird stärker gelockert, dann wird es eher doppelt so hoch wie die Welle im Januar/Februar 2022.“