„Laufen in Katastrophe“: Intensivmediziner und Pfleger berichten von dritter Welle
:format(webp)/cloudfront-eu-central-1.images.arcpublishing.com/madsack/VEYD53YQNBD7HI5SFKGR7SUENU.jpeg)
In einem Zimmer der Intensivstation wird ein Patient mit einem schweren Covid-19-Krankheitsverlauf behandelt.
© Quelle: Christophe Gateau/dpa
Mit jedem Tag, an dem die Gesundheitsämter in Deutschland Tausende Neuinfektionen melden, steigt die Zahl der Corona-Intensivpatienten. Nach Angaben der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (Divi) müssen aktuell 4740 Corona-Patienten in 1277 Krankenhäusern intensivmedizinisch behandelt werden.
:format(webp)/cloudfront-eu-central-1.images.arcpublishing.com/madsack/ZBUMAKXIEVG55G5MXAL23UX25Y.jpg)
Die Pandemie und wir
Der neue Alltag mit Corona: In unserem Newsletter ordnen wir die Nachrichten der Woche, erklären die Wissenschaft und geben Tipps für das Leben in der Krise – jeden Donnerstag.
Mit meiner Anmeldung zum Newsletter stimme ich der Werbevereinbarung zu.
Und es könnten noch mehr Schwerkranke werden: Die Modellierungen prognostizieren bis Ende April mehr als 6000 Covid-19-Patienten auf den Intensivstationen. Eine Entspannung für Ärzte und Pfleger ist damit nicht in Sicht – im Gegenteil. Drei Intensivmediziner und eine Intensivpflegerin erzählen, wie sie gegenwärtig die Situation in den Kliniken wahrnehmen.
Prof. Bernd Böttiger: „Jeden Tag stürzt hier im Moment ein Flugzeug ab“
Prof. Bernd Böttiger ist Direktor der Klinik für Anästhesiologie und operative Intensivmedizin an der Uniklinik Köln.
© Quelle: Uniklinik Köln
Prof. Bernd Böttiger, Direktor der Klinik für Anästhesiologie und operative Intensivmedizin an der Uniklinik Köln, findet deutliche Worte für die aktuelle Corona-Lage: „Wir sagen schon seit Wochen: ‚Hilfe, das kann so nicht weitergehen!‘ Wir appellieren händeringend an die Politik. Es ist nicht fünf nach zwölf, es ist schon halb eins. Und das kann so nicht weitergehen! Wir laufen offenen Auges in eine Katastrophe. Und keiner tut etwas.“
Auf den Intensivstationen der Uniklinik werden aktuell 35 Covid-19-Patienten behandelt. Damit sei die Patientenzahl inzwischen wieder auf dem Niveau von Weihnachten, sagt Böttiger. Die meisten von ihnen werden künstlich beatmet, einige sind zudem auf eine extrakorporale Membranoxygenierung angewiesen – also auf eine Art künstliche Lunge. Nicht nur die Anästhesiologie ist mit Corona-Intensivpatienten ausgelastet, sondern auch andere Fachbereiche wie die innere Medizin und die Herzchirurgie sind es.
Ein Drittel aller Intensivbetten des Klinikums sei mittlerweile mit Covid-19-Erkrankten belegt. „Wir haben bereits seit Freitag in der Woche nach Ostern wieder das normale Operationsprogramm um 30 Prozent reduzieren müssen, weil wir die Ressourcen sonst nicht haben“, macht Böttiger deutlich.
Die aktuelle Situation sei „eine unglaubliche Belastung für die Mitarbeiter“, vor allem in der Pflege, aber auch im ärztlichen Bereich. „Wir sind langsam auch energetisch in einer schwierigen Situation. Und jetzt sind wir erst am Anfang der dritten Welle“, sagt der Kölner Intensivmediziner. Der Frust in der Belegschaft sei hoch.
Ich kann es nicht verstehen, warum die Politik nicht reagiert. Das ist inakzeptabel.
Böttiger ist vor allem unzufrieden mit dem Corona-Krisenmanagement von Bund und Ländern. Der aktuelle Lockdown sei nicht hart genug, um die Ausbreitung der britischen Virusvariante B.1.1.7 zu stoppen. Auch die von der Bundesregierung beschlossene Notbremse im Infektionsschutzgesetz reiche dafür nicht aus, ist der Divi-Schatzmeister überzeugt. Er fordert einen sofortigen, zwei- bis dreiwöchigen Lockdown.
„Ich kann es nicht verstehen, warum die Politik nicht reagiert. Das ist inakzeptabel“, sagt Böttiger. Das „ineffektive Handeln“ von Bund und Ländern fordere tagtäglich Hunderte Menschenleben. „Jeden Tag stürzt hier im Moment ein Flugzeug ab.“ Der Intensivmediziner hofft sehr, dass sich die Prognose von 6000 Corona-Intensivpatienten bis Ende April nicht bestätigt. Er könne sich jedoch vorstellen, dass es sogar mehr Patienten sein werden.
„Es muss sich schleunigst etwas ändern“, fordert Böttiger. „Wenn wir es schaffen, unsere Kontakte deutlich zu reduzieren – für zwei, besser sogar für drei Wochen – und die Fallzahlen niedrig zu halten, dann können wir danach auch wieder öffnen.“
Intensivpflegerin: „Die Belastung auf den Intensivstationen ist immens hoch“
Seit 15 Jahren ist Julia Hartmann (Name von der Redaktion geändert) als Fachkrankenschwester für Intensiv- und Anästhesiepflege tätig. Stress ist sie also gewohnt, doch die Corona-Pandemie ist für sie und ihre Kollegen sowohl eine körperliche als auch eine psychische Herausforderung. „Die Belastung auf der Intensivstation ist immens hoch“, sagt Hartmann. Mehrere Stunden arbeitet sie mit Mundschutz und anderer Schutzausrüstung, hetzt zeitweise von einem Zimmer zum anderen. „Man kommt immer klitschnassgeschwitzt aus den Krankenzimmern“, erzählt sie. Essen und Trinken geraten bei dem Arbeitspensum oftmals in Vergessenheit. Überstunden sind zur Regel geworden.
Schon mehrfach habe sie überlegt aufzuhören, den Dienst zu quittieren. „Es ist nicht die Arbeit selbst, die einen abstößt. Ich liebe und schätze meine Arbeit“, sagt die Intensivpflegerin. „Aber es fehlt manchmal an Wertschätzung – von öffentlicher Seite, teilweise auch vonseiten der Patienten und Kollegen.“
Hartmann arbeitet aktuell Teilzeit auf einer anästhesiologischen Intensivstation einer niedersächsischen Klinik. 15 Intensivbetten stehen dort zur Verfügung – zwölf davon werden regulär belegt, manchmal werden zwei Betten zusätzlich gesperrt. Die Zahl der Corona-Intensivpatienten variiere.
„Das Bild der Erkrankten hat sich deutlich verschlechtert“, so Hartmann. „Wir haben insgesamt mehr Patienten auf den Stationen generell in den Krankenhäusern. Und die Corona-Patienten sind deutlich kränker als zu Beginn der Pandemie.“ Die Intensivpflegerin befürchtet zudem, dass sich die Situation weiter verschärfen könnte: „Ich glaube, da wird noch einiges auf uns zukommen, weil wir nicht schnell genug mit den Impfungen sind.“ Schreite die Corona-Impfkampagne nicht schneller voran, könne es sein, dass der Lockdown noch länger andauert. Dann drohe ein „harter Sommer“, prophezeit Hartmann.
Markus Heim: „Man hofft natürlich, dass die Vorhersagen nicht zutreffen“
:format(webp)/cloudfront-eu-central-1.images.arcpublishing.com/madsack/I6UPUQ5A4RB5HNYF4WAQZRXL6Y.jpg)
Markus Heim leitet die Intensivstation 1 am Klinikum rechts der Isar der Technischen Universität München.
© Quelle: Klinikum rechts der Isar
Markus Heim blickt ebenfalls mit Sorge auf die kommenden Wochen. „Wir müssen davon ausgehen, dass es uns noch hart treffen könnte“, sagt der Intensivmediziner. „Man hofft natürlich, dass die Vorhersagen nicht zutreffen, aber die Zahlen lassen sich nicht leugnen.“ Heim, Oberarzt, leitet die Intensivstation 1 am Klinikum rechts der Isar der Technischen Universität München. Dort sind aktuell die meisten Intensivbetten belegt.
„Wir haben zwar aktuell weniger Corona-Patienten auf der Intensivstation als noch um Weihnachten herum, aber klar ist, dass diese Zahl steigen wird“, sagt Heim. Hinzu kommen die Patienten, die nicht an Covid-19 erkrankt sind, aber dennoch eine intensivmedizinische Behandlung brauchen. „Sollten weitere Intensivbetten für Covid-19-Erkrankte benötigt werden, wird das Klinikum – wie in den ersten beiden Covid-19-Wellen – die erforderlichen Maßnahmen ergreifen, um zusätzliche Kapazitäten zu schaffen“, heißt es vonseiten des Klinikums.
Jeden Tag müssen Heim und seine Kollegen die Lage auf der Intensivstation neu bewerten. Wie viele Patienten werden derzeit behandelt? Wie viele von ihnen sind schwer erkrankt? Die Klinik für Anästhesiologie und Intensivmedizin verfügt über zwei Intensivstationen mit mehr als 50 Betten, wo sowohl Corona-Patienten als auch Nicht-Corona-Patienten betreut werden.
Die Forderung der Divi nach einem harten, zwei- bis dreiwöchigen Lockdown lässt Heim unkommentiert. Aber: „Aus medizinischer Sicht begrüßen wir alle Maßnahmen, die die Infektionszahlen reduzieren“, sagt er. Der Intensivmediziner weist zudem darauf hin, dass Einschränkungen erfahrungsgemäß ihre Wirkung erst mit einer Verzögerung von ein bis zwei Wochen zeigen.
Dominik Scharpf: „Man hat das Gefühl, man geht in einen Marathon“
:format(webp)/cloudfront-eu-central-1.images.arcpublishing.com/madsack/NZRY5WXS6RDDLLMEAJUBPIJKB4.jpg)
Dominik Scharpf ist Oberarzt der Klinik für innere Medizin 1(Kardiologie, Angiologie, Pneumologie) am SLK-Klinikum am Gesundbrunnen in Heilbronn.
© Quelle: SLK-Kliniken Heilbronn GmbH
Am Mittwoch hat das SLK-Klinikum am Gesundbrunnen in Heilbronn seine vierte Covid-19-Normalstation eröffnet. „Die Patienten werden mehr und mehr“, sagt Dominik Scharpf, Oberarzt der Klinik für innere Medizin 1 (Kardiologie, Angiologie, Pneumologie). Allein auf der Intensivstation behandeln er und sein Team zurzeit 20 Corona-Patienten. „Das hört sich vielleicht im ersten Moment nicht dramatisch an, ist aber wirklich viel.“ Denn der Puffer, um plötzliche Intensiv- und Notfälle zu behandeln, schrumpft.
„Eine 80-prozentige Auslastung der Intensivstation ist eigentlich eine hundertprozentige“, erklärt der Intensivmediziner. „Das ist die Ideal- und Regelauslastung, die noch Kapazitäten für Notfallpatienten hat.“ In der Regelversorgung stehen Scharpf und seinen Kollegen für internistische Patienten normalerweise insgesamt 16 Intensivbetten und vier Betten auf der Intermediate-Care-Station zur Verfügung. Momentan werden daher internistische Patienten, die nicht an Covid-19 erkrankt sind, auf der operativen Intensivstation mitversorgt. Das SLK-Klinikum am Gesundbrunnen ist zudem ein ECMO-Zentrum. Sechs Maschinen zur extrakorporalen Membranoxygenierung seien derzeit in Betrieb.
Der jüngste Corona-Patient, der mithilfe der künstlichen Lunge beatmet wird, ist 36 Jahre alt. „Wir sehen deutlich jüngere Covid-19-Patienten in unserer Klinik, die auch schwere Krankheitsverläufe entwickeln“, sagt Scharpf. Der Altersdurchschnitt liege aktuell bei 64 Jahren. Hochbetagte Corona-Intensivpatienten gebe es nur noch selten. Für Scharpf ein Zeichen, dass die Impfungen wirken.
Jetzt hört man teilweise Aussagen wie „Stellt euch nicht so an!“. Man fühlt sich im Moment nicht von allen Seiten ernst genommen.
Gleichzeitig stellt der geringere Altersdurchschnitt der Corona-Patienten die Mediziner vor neue Herausforderungen. Denn die Covid-19-Erkrankten liegen inzwischen länger auf der Intensivstation als noch während der ersten Infektionswelle. Das verschärft den Mangel an Intensivbetten. Das SLK-Klinikum am Gesundbrunnen musste sein Elektivprogramm herunterfahren. Das heißt, viele planbare Eingriffe – bis auf Tumoroperationen – müssen verschoben werden.
Die aktuelle Situation zerre an den Nerven, berichtet Scharpf. Durchschnittlich zwölf bis 13 Stunden arbeitet er pro Tag. „Man hat das Gefühl, man geht in einen Marathon“, sagt er. „Nur dieses Mal mangelt es gefühlt an Unterstützung und Verständnis. Das war während der ersten Corona-Welle noch anders. Jetzt hört man teilweise Aussagen wie ‚Stellt euch nicht so an!‘. Man fühlt sich im Moment nicht von allen Seiten ernst genommen.“
Der Heilbronner Intensivmediziner ist auch in den sozialen Netzwerken aktiv, um Erfahrungen aus seiner Arbeit zu teilen und um über Fehlinformationen aufzuklären. Viele Menschen hätten mitunter noch nicht verstanden, dass Covid-19 eine komplexe und nicht berechenbare Krankheit ist, die jeden treffen kann. Um das Risiko für schwere Covid-19-Erkrankungen zu minimieren, sei es jetzt wichtig, die Fallzahlen zu reduzieren. Aber: „Ganz effektive Corona-Maßnahmen, die das bewirken, sehe ich bisher nicht“, bemängelt Scharpf.