Kopfballgefahr: Wie groß sind die Risiken für das Gehirn wirklich?
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Italiens Alessandro Bastoni (links) springt zum Kopfball mit Gareth Bale von Wales beim EM-Spiel.
© Quelle: Alberto Lingria/POOL Reuters/dpa
Robin Gosens köpft den Ball zum 4:1 gegen Portugal ins Tor und wird von den Fans im Stadion gefeiert. Doch was ist währenddessen mit dem Kopf des Spielers passiert? Christoph Kleinschnitz ist Neurologe am Essener Uniklinikum und sagt: „Egal, ob ein Ball oder Stein an den Kopf trifft, es entsteht ein Schädelhirntrauma“. Bei einem Kopfball sei das aber zunächst nicht so schlimm, wie es vielleicht klingt. Denn das Gehirn ist durch die Schädeldecke und auch darunter gut geschützt.
Profis kommen aber auf weit über tausend Kopfbälle pro Jahr und das bleibt oft nicht folgenlos: „Bei immer wiederkehrenden, leichten Schädelhirntraumata – wie im Profifußball – kommt es zu einer chronischen Entzündung im Gehirn. Das ist dauerhaft alles andere als gesund“, sagt Kleinschnitz im Gespräch mit dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND). Nervenzellen würden dann immer weiter kaputt gehen und es komme zu einer Gehirnschrumpfung. „Dann können auch Krankheiten wie Demenz und Parkinson entstehen“, warnt der Experte. Abhängig von der Schwere könnten Nervenzellen und Blutgefäße beschädigt und verschiedene Strukturen des Gehirns akut verletzt werden. „Aber solche akuten Verletzungen mit Hirnblutungen und neuronaler Zerstörungen gibt es nur bei schweren Schädelhirntraumata – das kommt eher bei Autounfällen vor“, beruhigt der Neurologe. Es sei auch nicht der Fall, dass der ganze Profifußball an Parkinson oder Demenz erkranke. Aber das Risiko sei eben höher.
Kopfball – alles eine Frage der Technik?
Durch mehrfaches, tägliches Training und Spiele können die vielen kleinen Hirntraumata beim Kopfball in der Summe potenziell Schäden hinterlassen. Diese Gefahr dürfe nicht unterschätzt werden, sagt Kleinschnitz. „Es gibt den Point of no Return, wo die dauerhafte Entzündung nicht mehr weggeht“. Man könne zwar Rehamaßnahmen machen wie Gedächtnis- und Kognitionstraining. „Aber es gibt keine Tablette, um verloren gegangene Nervenzellen wiederherzustellen.“
„Der einmalige Kopfball – gerade im Amateurbereich – ist unkritisch“
Professor Dr. Christoph Kleinschnitz,
Direktor der Klinik für Neurologie am Uniklinikum Essen
Kleinschnitz und viele andere Experten und Expertinnen sind sich aber einig, dass ein einziger Kopfball noch keine Demenz hervorruft. „Der einmalige Kopfball – gerade im Amateurbereich – ist unkritisch“. Profis kennen sich zudem mit der richtigen Technik aus, die das Verletzungsrisiko senken kann. „Beim klassischen Kopfball kann man die Wucht mit dem Kopf kontrolliert steuern und die Halswirbelsäule ist auf die Erschütterung vorbereitet“, sagt Kleinschnitz.
Dass die richtige Technik beim Kopfball wichtig ist, bestätigt auch Inga Koerte, die an der Ludwig-Maximilians-Universität München und an der Harvard Medical School in Boston forscht. „Wir wissen, dass Rotationsbewegungen wie das Drehen des Kopfes zu mehr Schädigungen im Hirngewebe führen als lineare Beschleunigungen“. Werden Kopfbälle also nicht exakt mit der Stirn-Haar-Grenze gespielt, könne die Beschleunigungswirkung laut Koerte deutlich größer ausfallen. Ein weiterer Risikofaktor sei eine nicht ausreichend trainierte Nackenmuskulatur. Dies führe ebenfalls dazu, dass der Kopf viel stärker in Bewegung versetzt wird.
Wer hat ein höheres Risiko für Kopfballschäden?
Offen ist allerdings die Frage: Wie kann es sein, dass manche Gehirne die Erschütterungen bei Kopfbällen gut verkraften und keine Folgen davontragen und andere schwer davon geschädigt werden? „Es scheint eine vulnerable Gruppe zu geben, die ein erhöhtes Kopfballrisiko für neuro-degenerative Erkrankung wie Alzheimer oder Parkinson hat“, erklärt Koerte. Warum das so ist, versuchen immer wieder Studien genauer zu herauszufinden. Mit dieser Information könnten dann bestimmte Menschen geschützt oder ihnen gar davon abgeraten werden, Profifußballer oder Profifußballerin zu werden.
Eine aktuelle Frage in der Kopfballforschung ist etwa, ob Frauen und Mädchen stärkere Verletzungen davontragen und ob es bestimmte Risikofaktoren gibt. An der Technik und der Nackenmuskulatur könne man zwar arbeiten. „Aber manche Menschen haben genetisch bedingt mehr Muskeln als andere und bei Frauen sind es sogar im Durchschnitt 30 Prozent weniger Muskelmasse als bei Männern“, sagt Koerte. Überhaupt bestehe ein großer Forschungsbedarf, inwiefern Hormone und Genetik Einfluss auf die Folgen von Kopfbällen haben.
Was die Wissenschaft weiß: Fußballerinnen und Fußballer haben grundsätzlich ein höheres Risiko, neurodegenerative Erkrankungen zu erleiden und an ihnen zu versterben. Dazu zählen neben Demenz und Parkinson auch eine chronisch traumatische Enzephalopathie (CTE), die vor allem aus dem American Football und Boxen bekannt ist. Denn neben Kopfbällen gibt es im Fußball auch Zusammenstöße mehrerer Köpfe – etwa beim Versuch, den Eckball durch einen Sprung in die Luft ins Tor zu befördern. Die Kopferschütterungen beim Boxen und American Football sind allerdings viel stärker als beim Kopfball und daher nur in geringem Maße vergleichbar. Studien belegen zudem neurodegenerative Erkrankung bisher nur für das Ende des Lebens, etwa durch pathologische Untersuchungen. Inwiefern schon während der aktiven Fußballkarriere neurologische Erkrankungen auftreten, ist daher unklar.
Hinweise auf Gehirnschäden bei aktiven Spielern
Viel Forschung zu Kopfverletzungen bei Kontaktsportarten findet derzeit in den USA beim American Football statt. Dort sind die Auseinandersetzungen heftiger, das Risikobewusstsein höher. Koerte hat mit ihrem Team in einer aktuellen Studie herausgefunden, dass erhöhte sogenannte Tau-Werte schon bei aktiven NFL-Spielern zu finden sind. Bisher hatte man höhere Mengen des Tau-Proteins nur in Untersuchungen verstorbener Profis aus dem American Football festgestellt. Das Tau-Protein führe dazu, dass Zellen geschädigt werden und absterben, erklärt Koerte. „In der Studie haben wir gesehen, dass die erhöhten Tau-Proteinwerte mit Veränderungen in der Mikrostruktur des Gehirns einhergehen“. Das sei ein Hinweis darauf, dass das Gehirn bereits bei aktiven Spielern Schaden genommen habe. „Die Veränderungen im Gehirngewebe stehen in Zusammenhang mit einer schlechteren Gedächtnisleistung und längeren Reaktionszeit“, erklärt die Wissenschaftlerin.
Positive Faktoren überwiegen beim Fußball
Trotz eines gewissen Risikos von Kopfbällen ist von Fußball nicht grundsätzlich abzuraten. Sport und insbesondere Mannschaftssport habe viele positive Auswirkungen für Kinder und Jugendliche, betonen Koerte und Kleinschnitz. „Bei Kopfbällen sollte man sich aber die Frage stellen, ob die wirklich nötig sind“, meint Koerte. Denn die Wissenschaft wisse einfach noch nicht genug über die potenziellen Gefahren.
„Wenn Kopfbälle gespielt werden, geht es mir wie manchmal beim Tatort: Dann schaue ich lieber ganz kurz weg“
Professorin Dr. Inga Koerten von der Havard Mecial School und Ludwig-Maximilians-Universität München
Das heißt nicht, dass Eltern diese sofort verbieten müssen „Ich habe selbst Kinder und wenn ich deren Kopfballgeschick sehe, muss ich mir keine Sorgen machen“, sagt Kleinschnitz. Auch wenn Kinder hin und wieder einen Ball mit dem Kopf treffen, sei dies kein Grund zur Beunruhigung. Vorsichtiger äußert er sich zum Mannschaftssport: „Beim Fußballtraining mit Kindern sollte man Kopfbälle nicht intensiv trainieren“, rät er. Aber wenn ein Kind einmal ein Kopfballtor mache, müsse sich niemand sorgen.
DFB und UEFA wissen von Kopfballrisiken
Der Deutsche Fußballbund (DFB) weiß um die potenziellen Risiken, die mit Kopfbällen einhergehen. Er hat den Empfehlungen der Uefa zum Kopfballspiel zugestimmt, wonach Kopfballübungen im Training „so weit wie möglich“ verringert werden sollen. Ziel dieser Empfehlung sei es, die Zahl der Kopfbälle in Training und Spiel zu reduzieren, erklärt der DFB gegenüber dem RND. „Verschiedene Regeländerungen wie die Verkleinerung des Spielfelds, die Verringerung der Spieleranzahl und/oder niedrigere Tore können dies bewirken.“
Auch Ballgröße und Balldruck sollen beim Training angepasst werden, der Einsatz von Schaumstoffbällen ist ein weiterer Ratschlag. Außerdem werden angepasste Spielformen mit einem geringeren Risiko empfohlen: „Die neuen Spielformen für den Kinderfußball durch die Reduzierung der Spielerzahl und das Spiel auf Minitore führen zu einer deutlichen geringeren Anzahl von Kopfbällen“, heißt es auf Nachfrage vom DFB. Die Trainerinnen und Trainer seien angehalten, die Bedingungen für das Kopfballspiel altersgerecht zu gestalten. Aktuell führt der Fußballbund in Zusammenarbeit mit der DFL und der Verwaltungs-Berufsgenossenschaft (VBG) eine Studie durch, die auch über Kopfballspiel und Kopfverletzungen hinaus weitere Erkenntnisse zu gesundheitlichen Auswirkungen des Fußballs liefern soll. Ergebnisse werden in frühestens zwei Jahren erwartet.
Koerte: Bei Kopfbällen schaue ich weg
Koerte sagt, sie könne sich inzwischen kein American-Football-Spiel mehr anschauen. „Die Brutalität und die Erschütterungen des Kopfes sind enorm und ich bin in Kontakt mit vielen ehemaligen Spielern und sehe, welche Auswirkungen das auf ihr Leben hat.“ Deshalb sei es ihr nicht mehr möglich, diese Spiele zu schauen. Bei Fußball sei das aber anders. Denn den Fußball mache schließlich noch viel mehr aus als die starken Kollisionen. Ob sie bei Kopfbällen auf die korrekt lineare Technik und das Treffen der Stirn-Haar-Kante achte? „Wenn Kopfbälle gespielt werden, geht es mir wie manchmal beim Tatort: Dann schaue ich lieber ganz kurz weg“, antwortet die Wissenschaftlerin.
Kopferschütterungen beim Kopfball sollten nicht mit Gehirnerschütterungen bei Zusammenstößen auf dem Spielfeld verwechselt werden. Beim WM-Finale 2014 wurde zum Beispiel Christoph Kramer bei einem Bodycheck am Kopf getroffen. Trotz Blackouts und Gehirnerschütterung wurde Kramer erst eine Viertelstunde später ausgewechselt. Er konnte sich damals nicht einmal mehr daran erinnern, dass er im Finale auf dem Platz gestanden hatte.
Gehirnerschütterungen müssten schnell erkannt und behandelt werden, sagt Koerte. „Das ist eine andere Kategorie, da weiß die Wissenschaft genug und da müssen wir nicht diskutieren.“ Auch Neurologe Kleinschnitz betont: „Wichtig ist, dass die Fußballer bei einem Ereignis wie der Kopfverletzung von Christoph Kramer vom Platz gehen und nicht weiterspielen. Denn bei so einem massiven Ereignis können schwere Schäden eintreten.“ Daher seien die verpflichtenden neurologischen Untersuchungen so wichtig.
Der DFB hat in der Bundesliga zur Saison 2019/20 verpflichtende „Baseline Screenings“ eingeführt, um nach Zusammenstößen eine Gehirnerschütterung schneller zu erkennen. „Diese Tests untersuchen die verschiedenen Teilbereiche der Hirnfunktion, unter anderem Eigenschaften wie die Balance und die Merkfähigkeit“, so der DFB. Erst wenn der Normalzustand wieder erreicht sei, dürfe ein Spieler weiterspielen. Schiedsrichter und Schiedsrichterinnen müssten das Spiel aus diesem Grund auch möglicherweise länger unterbrechen.