Alarm in den USA

Kommt die Kinderlähmung zurück? Was Sie über Polio wissen müssen

Ein Impfbuch mit markierten Feldern Diphterie (l-r), Tetanus (Wundstarrkrampf), Pertussis (Keuchhusten), Polio und Masern liegt auf einem Tisch. Foto: Daniel Karmann/dpa

Ein Impfbuch mit markierten Feldern Diphterie (l-r), Tetanus (Wundstarrkrampf), Pertussis (Keuchhusten), Polio und Masern.

Der US-Bundesstaat New York hat den Katastrophenfall ausgerufen. Dieses Mal ist es nicht das Coronavirus, das für den Ausnahmezustand sorgt, sondern Polioviren. Die Erreger fanden sich in Abwasserproben in den Countys Rockland, Orange, Sullivan, New York City und zuletzt Nassau County. Auch in Großbritannien hatten Forschende die Viren im Abwasser nachweisen können. Doch wie gefährlich sind die Polioviren? Welche Symptome rufen sie hervor? Und wie kann man sich vor Ansteckungen schützen? Ein Überblick:

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Was sind Polioviren?

Polioviren gehören zur Gruppe der Enteroviren, die sich im menschlichen Darm vermehren können. Sie sind – wie auch das Coronavirus – sogenannte RNA-Viren, das heißt, ihre Erbsubstanz besteht aus einsträngiger Ribonukleinsäure (RNA). Es gibt drei Typen von Polioviren: Typ 1, 2 und 3. Typ 2 und 3 gelten mittlerweile als ausgerottet. Typ 1 zirkuliert noch in Entwicklungs- und Schwellenländern wie Afghanistan und Pakistan. Europa gilt seit 2002 als poliofrei.

Am häufigsten werden Polioviren fäkal-oral übertragen. Zum Beispiel durch verschmutztes Wasser, verunreinigte Nahrung oder Getränke. Schlechte hygienische Zustände begünstigen allgemein die Ausbreitung der Krankheitserreger. Auch über Tröpfchen, die beim Ausatmen, Husten und Niesen freigesetzt werden, können sie sich verbreiten.

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Da der Kontakt mit den Viren in der Vergangenheit vor allem im Kindesalter stattfand, prägte sich der Begriff „Kinderlähmung“ für die von ihnen verursachte Erkrankung. Der Name ist eigentlich irreführend, denn auch Erwachsene können sich mit Polioviren infizieren. In Fachkreisen trägt die Krankheit den Namen Poliomyelitis, kurz Polio.

Welche Symptome treten bei Poliomyelitis auf?

Die Mehrzahl der Polio-Infektionen verläuft asymptomatisch, also ohne Symptome. Dennoch bilden sich neutralisierende Antikörper. Infektionsepidemiologinnen und -epidemiologen sprechen von einer sogenannten stillen Feiung.

Es kann jedoch auch zu schweren Krankheitsverläufen mit Fieber, Übelkeit, Halsschmerzen, Rückenschmerzen, bin hin zu Lähmungen der Arme, Beine und der Atmung kommen. Lähmungen sind deshalb möglich, weil die Viren das Gehirn befallen können. Sie vermehren sich zunächst im Darm, gelangen darüber ins Blut und schließlich ins zentrale Nervensystem. Besonders häufig greifen die Erreger die motorischen Vorderhornzellen des Rückenmarks an, die die Bewegungen der Gliedmaßen kontrollieren. Dort kommt es zu Entzündungsreaktionen.

Wichtig zu wissen: Polio ist nicht heilbar. Es ist nur eine symptombezogene Therapie möglich – das heißt, die Beschwerden können gelindert werden.

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Wie lange kann die Krankheit andauern?

Die Zeit von der Ansteckung bis zum Ausbruch der Krankheit beträgt drei bis 35 Tage. Ansteckend sind Betroffene, solange sie das Virus ausscheiden. In Rachensekreten ist der Erreger frühestens 36 Stunden nach einer Infektion nachweisbar und kann dort bis zu einer Woche fortbestehen. Die Virusausscheidung im Stuhl beginnt nach zwei bis drei Tagen und kann bis zu sechs Wochen andauern, bei Immungeschwächten im Einzelfall sogar Monate bis Jahre.

Um die Viren bei Betroffenen nachzuweisen, eignen sich Stuhlproben. Aber auch Rachenabstriche können Auskunft über eine Infektion geben. Jeden direkten oder indirekten Nachweis von Polioviren müssen Ärztinnen und Ärzte innerhalb von 24 Stunden den zuständigen Gesundheitsämtern melden.

Gibt es eine Impfung gegen Polio?

„Kinderlähmung ist grausam, Schluckimpfung ist süß“ – mit diesem Slogan wurde ab den 1960er Jahren für die Polio-Impfung in Deutschland geworben. Zum Einsatz kam damals ein Lebendimpfstoff, der auf ein Stück Würfelzucker geträufelt wurde. Er enthielt abgeschwächte lebende Polioviren, die im Körper Antikörper gegen die Erreger hervorrufen sollten.

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WHO-Chef gibt Hoffnung auf ein Ende der Pandemie

Seit zweieinhalb Jahren begleitet uns die Corona-Pandemie. WHO-Chef Tedros Adhanom Ghebreyesus gibt Hoffnung auf ein Ende der Krise.

Die Schluckimpfungen und die 1988 initiierten weltweiten Impfkampagnen haben dabei geholfen, Polio in den allermeisten Erdteilen auszurotten. Sie hatten jedoch einen Nachteil: Die im Impfstoff enthaltenen Lebendviren konnten sich im Magen-Darm-Trakt von Geimpften noch wochenlang vermehren und über den Stuhl ausgeschieden werden. Kamen Menschen mit geschwächtem Immunsystem mit den ausgeschiedenen Impfviren in Kontakt, konnten sie an Polio erkranken.

Das ist der Grund, warum seit 1998 keine Schluckimpfung mehr in Deutschland durchgeführt wird. Inzwischen finden Polio-Impfungen mithilfe eines inaktivierten Impfstoffs – auch IPV genannt – statt, der in den Oberarm injiziert wird. Dabei besteht keine Gefahr, die Polioviren weiter zu verbreiten. In anderen Ländern ist die Schluckimpfung aber immer noch verbreitet, weil sie kostengünstiger ist.

Wenn die Impfungen Polio weitgehend ausgerottet haben, warum werden die Viren dann jetzt wieder vermehrt nachgewiesen?

Bei den Polionachweisen aus den USA und Großbritannien muss man eines beachten: Es handelt sich nicht um Polioviren des Wildtypen, sondern um Erregerstämme, die sich aus der Schluckimpfung entwickelt haben. Man spricht von sogenannten „vaccine derived polioviruses“, kurz VDPV. Im März hatte in Israel ein vierjähriges ungeimpftes Kind eine akute schlaffe Lähmungen erlitten, sechs weitere Kinder waren asymptomatisch erkrankt. Untersuchungen hatten ergeben, dass es sich bei dem Virus um eine VDPV2-Variante handelte. Sie ist es auch, die in den USA und Großbritannien entdeckt wurde.

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Solche abgeschwächten Polio-Impfviren können unbemerkt über längere Zeit unter ungeimpften Personen zirkulieren. Das Problem dabei ist: „Je länger das Virus zirkuliert, umso größer ist die Gefahr, dass veränderte Viren auftreten, die nach Infektion eine symptomatische Erkrankung hervorrufen können“, schreibt das Robert Koch-Institut (RKI) auf seiner Internetseite. Man spricht dann von „circulating vaccine-derived polioviruses“, kurz cVDPV. Sowohl die in den USA als auch die in Großbritannien entdeckten Polioviren haben die Gesundheitsbehörden inzwischen als cVDPV2 eingestuft.

Bislang wurden die Polioviren vorwiegend in Umweltproben nachgewiesen. Allerdings gab es in den USA auch eine Infektion bei einem Menschen: Ende Juli wurde ein Fall von bei einer nicht geimpften Person in Rockland County gemeldet, die Lähmungen aufwies. Es ist der erste Polio-Fall seit 2013 gewesen. Was bei den bisherigen Polio-Nachweisen in Großbritannien, Israel und den USA auffällt: Die entdeckten Viren sind genetisch miteinander verwandt, wie die Weltgesundheitsorganisation WHO vor wenigen Tagen mitteilte. Weitere Untersuchungen sind erforderlich, um die genauen Zusammenhänge zu verstehen.

Die WHO rät dazu, die Polio-Ausbrüche weiterhin genau zu beobachten. Dazu soll die Abwasserüberwachung verbessert werden. „Abwasseruntersuchungen sind ein wertvolles Mittel, um frühzeitig Infektionen zu erkennen“, sagte Kathrin Keeren Mitte August dem Science Media Center (SMC). Sie leitet die Geschäftsstelle der Nationalen Kommission für die Polioeradikation in Deutschland am RKI in Berlin.

Arbeiter im Abwasserkanal: Die Leitungen im Norden Schaumburgs werden gereinigt und gespült.

Im Abwasser lassen sich Krankheitserreger wie Polioviren nachweisen. Noch hat sich dieses Infektionsmonitoring aber nicht in Deutschland etabliert.

Eine flächendeckende Abwassertestung auf Infektionserreger gibt es in Deutschland noch nicht. Sie werde aber derzeit im Rahmen eines Pilotprojektes am RKI etabliert, erklärte Keeren. „Das Abwasser auf Polioviren zu untersuchen ist aufwendig und sollte an mehreren Standorten durchgeführt werden. So kann zwar der Ort des Infektionsgeschehens eingegrenzt werden, jedoch kann die ausscheidende Person damit nicht identifiziert werden.“

Gibt es Polio-Fälle auch in Deutschland?

Die letzte Polio-Erkrankung, die ein Wildvirus hervorgerufen hat, wurde 1990 in Deutschland erfasst. Die letzten beiden aus Ägypten und Indien importierten Fälle traten 1992 auf. Seitdem wurden keine weiteren Infektionen mehr entdeckt.

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RKI-Expertin Keeren hält einen Polio-Ausbruch in Deutschland für unwahrscheinlich, wie sie vor wenigen Tagen im Interview mit dem Deutschlandfunk erklärte. Das liege daran, dass die Impfquote mit 90 bis 92 Prozent in der Bevölkerung hierzulande sehr hoch sei. „Selbst wenn wir etwas im Abwasser finden würden – entweder Wildtypviren oder etwas anderes –, dann haben wir so eine hohe Impfquote, dass dann relativ schnell dieser Eintrag beendet wird.“

Wie lassen sich die Ausbrüche eindämmen?

Großbritannien und die USA setzen im Kampf gegen die Polioviren auf Auffrischungsimpfungen. „Wenn Ihr Kind nicht geimpft ist oder der Impfstatus nicht auf dem aktuellen Stand ist, dann ist das Risiko einer lähmenden Erkrankung real“, warnte kürzlich etwa New Yorks Gesundheitsbeauftragte Mary Bassett. Sie appellierte an alle Eltern, ihre Kinder schnell impfen zu lassen.

Nachfrage nach neuen Corona-Impfstoffen ist groß
13.09.2022, Bremen: Spritzen mit dem neuen Spikevax Impfstoff von Moderna werden im Impfzentrum am Brill vorbereitet. In Bremen werden erstmals die überarbeiteten Corona-Impfstoffe verimpft, die speziell gegen die Omikron-Variante BA.1 entwickelt wurden. Foto: Sina Schuldt/dpa +++ dpa-Bildfunk +++

In Bremen werden seit Dienstag erstmals die überarbeiteten Corona-Impfstoffe verimpft. Die Vakzine wurden speziell gegen die Omikron-Variante BA.1 entwickelt.

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Im Vereinigten Königreich ist bereits eine breite Impfkampagne gestartet. Kinder zwischen ein und neun Jahren in allen Londoner Stadtbezirken sollen eine Polio-Auffrischimpfung erhalten, empfiehlt der Gemeinsame Ausschuss für Impfungen und Immunisierung (JCVI). „Es ist wichtig, dass alle Kinder im Alter von 1 bis 9 Jahren – auch wenn ihre Impfungen auf dem neuesten Stand sind – diesen Impfstoff annehmen, wenn er angeboten wird, um ihren Schutz gegen das Poliovirus weiter zu verstärken“, machte das britische Gesundheitsministerium deutlich.

Für einen vollständigen Impfschutz gegen Polio empfiehlt der britische Gesundheitsdienst NHS fünf Impfungen bei Kindern: Die ersten drei Impfstoffdosen sollen sie im Alter von acht, zwölf und 16 Wochen erhalten. Die vierte soll dann mit drei Jahren und vier Monaten folgen, die fünfte schließlich im Alter von 14 Jahren. In den USA sind es nur vier Dosen, die laut Gesundheitsbehörde CDC notwendig sind – und zwar im Alter von zwei Monaten, vier Monaten, sechs bis acht Monaten und vier bis sechs Jahren.

In Deutschland rät die Ständige Impfkommission (Stiko) nur zu drei Impfungen: einmal im Alter von zwei Monaten, einmal im Alter von vier Monaten und einmal im Alter von elf Monaten. Frühgeborene, die vor der vollendeten 37. Schwangerschaftswoche geboren sind, sollen wiederum vier Impfstoffdosen erhalten. Sie sollen im Alter von zwei, drei, vier und elf Monaten geimpft werden. Im Alter von fünf bis sechs Jahren sollte die erste Auffrischimpfung erfolgen, die zweite Auffrischimpfung dann im Alter von neun bis 17 Jahren. Danach braucht es alle zehn Jahre weitere Auffrischungen gegen Polio.

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