Einsamkeit durch psychische Erkrankungen: “Die Welt jenseits der Haustür macht mir Angst”
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Für Menschen, die mit einer Angststörung oder Depressionen leben, können die einfachsten Tagesaufgaben unmöglich erscheinen.
© Quelle: Free-Photos auf Pixabay
Die SMS einer Freundin erreicht mich am Freitagnachmittag. “Wollen wir spazieren gehen?” Eine simple Frage. Die meisten Menschen würden an dieser Stelle wohl kurz überlegen, ob sie dazu Lust und Zeit haben, und dann würden sie sich die Schuhe anziehen oder eben nicht. Für mich ist eine solche Frage eine Denksportaufgabe. Denn das Innere meines Kopfes ist ein Labyrinth. Einfache Antworten gibt es nicht.
Wenn ich das Haus verlasse, dann braucht es einen Kraftaufwand, der weit über das Schuhezubinden hinausgeht. Die Welt jenseits der Haustür macht mir Angst. Nicht, weil draußen Corona-Alarm herrscht oder der Regen die Frisur ruinieren könnte, sondern weil ich, seit ich denken kann, mit einer Angststörung und mit Depressionen lebe. Wenn mich also jemand fragt, ob ich mich verabreden will, dann löst diese Frage ein Dilemma in mir aus. Einerseits möchte ich gern mitkommen – frische Luft, ein nettes Gespräch, Zeit mit lieben Menschen, neue Eindrücke, all das klingt verlockend. Aber andererseits sind da diese Gedanken: die Angst, mir könnte es unterwegs schlecht gehen, übel oder schwindelig werden, ich könnte Luftnot bekommen oder Herzstolpern, und dann ist es meistens nicht mehr weit, bis ich mich ohnmächtig im Park liegen sehe, umgeben von Schaulustigen und Rettungssanitätern in Jacken mit Reflektorstreifen an den Ärmeln.
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Am 10. Oktober ist Internationaler Tag der seelischen Gesundheit und gleichzeitig Auftakt der gleichnamigen Themenwoche. Anlass für das RedaktionsNetzwerk Deutschland, sich in verschiedenen Artikeln, Interviews und Beiträgen den Themen “mental health” und psychische Erkrankungen zu widmen.
© Quelle: Gina Patan
Die Sicht auf die Welt verändert sich
Für meine Mitmenschen sind diese Bilder abwegig. Sie wollen einfach eine schöne Zeit mit mir verbringen. Sich gut unterhalten, lachen, auf ein Eichhörnchen zeigen, das einen Baumstamm hinaufflitzt. Meine Sicht der Welt sieht anders aus. Angst oder Zuversicht, Blaulicht oder Eichhörnchen, das ist der Unterschied, das ist die unsichtbare Grenze, die mein soziales Umfeld und mich voneinander trennt.
Für Nichtbetroffene ist das schwer zu verstehen. Dass es manchmal schlichtweg nicht möglich ist, sich für einen Spaziergang zu verabreden. Weil die Knie beginnen, zu zittern, und alles anfängt, sich zu drehen, sobald man die Haustür hinter sich ins Schloss zieht. Weil der ganze Körper sich so unfassbar schwer und müde anfühlt, dass allein aufzustehen und zu duschen so viel Energie erfordert, als müsse man bei einem Marathon an den Start gehen. Oder weil man komplett versunken ist in der Traurigkeit wie in einem Wasserbecken, das gefüllt ist bis zum Rand. Man kann die Stimmen der anderen nur noch von weit entfernt, unter der Wasseroberfläche, hören, aber ohne dass sie wirklich zum eigenen Herzen vordringen. Dann schaut man hinauf in die blasse, verschwommene Realität, die an etwas erinnert, das man einmal kannte, aber zu dem man keinen Weg finden kann.
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Kea von Garnier hat sich schon mit zwölf Jahren das erste Mal in eine Therapie begeben. Doch die Autorin hat gelernt, sich gegen die dunklen Tage zu behaupten und mit ihnen zu leben.
© Quelle: Eden Books
Wenn das Leben woanders stattfindet – und man selbst nicht teilnehmen kann
Hinter all diesen Zuständen von Angst und Depression steckt keine mangelnde Willenskraft und keine charakterliche Schwäche, sondern eine ernst zu nehmende Erkrankung. Die Angst oder Depression, die einen nicht mehr weitergehen lässt, egal wie sehr man es sich wünscht. Meine Erkrankungen haben mich oft traurig und verzweifelt gemacht. An Sonntagnachmittagen, an denen die Sonne vom Himmel krachte, als wolle sie für immer bleiben, und gefühlt die ganze Welt am Badesee lag, Pommes rot-weiß bestellte und abends mit Sand zwischen den Zehen heimkehrte.
Diese unzähligen Tage, an denen ich zu Hause blieb, waren Zeiten der Einsamkeit. Das Leben fand woanders statt, ich war außen vor. Dann lag ich auf dem Bett oder Sofa, eine Wärmflasche an mich gedrückt, und tat das, was noch möglich war. Manchmal war das lesen, telefonieren oder einen Film anschauen, aber oft hieß das auch, an die Decke oder aus dem Fenster zu starren und mir immer und immer wieder zu wünschen, mein Leben könnte anders sein. Aber genauso einsam wie in diesen Stunden fühlte ich mich manchmal auch dann, wenn ich mitten unter Menschen war. Wenn ich lächelte, obwohl mir tief drinnen eigentlich gar nicht danach zumute war. Weil die, mit denen ich unterwegs war, so waren, wie ich gern gewesen wäre – unbeschwert, sorglos, leicht. Natürlich nicht immer. Aber eben doch sehr viel öfter, als es mir möglich war.
Die Angst davor, nicht “funktionieren” zu können
Und manchmal stieß ich die anderen einfach weg, die, die immer wieder an meine Tür klopften, um mich mitzunehmen ins Leben. Die, die ich immer wieder enttäuschen musste. Ich zog mich von ihnen zurück, aus Scham, aus Angst oder damit sie das Leid nicht sahen oder mittragen mussten. Dabei waren es nicht sie, ich war diejenige, die sich selbst dafür ablehnte, dass ich so schlecht “funktionierte”. “Funktionieren”, das zählt viel in unserer Gesellschaft. Wer das nur eingeschränkt kann, schämt sich. Und genau diese Gefühle von Schuld und Scham tragen dazu bei, den Kreislauf der Erkrankung mit aufrechtzuerhalten. Sie liefern quasi das Material für das nächste Tief: “Ich werde es ja sowieso nie schaffen.” “Warum kann ich nicht einfach so sein wie die anderen?“ ”War ja klar, dass das wieder nicht klappt.”
Dabei erfordert es viel Kraft, mit Erkrankungen zu leben, die den Alltag und die soziale Interaktion mit anderen so stark behindern. Und genauso wenig, wie wir einen Menschen, der sich den Fuß gebrochen hat, auffordern würden, jetzt gefälligst mit uns wandern zu gehen, genauso wenig verdienen es Menschen mit erkrankter Psyche, für die Einschränkungen, die die Erkrankungen mit sich bringen, verurteilt zu werden. Auch nicht von uns selbst.
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“Die Vögel singen auch bei Regen” von Kea von Garnier.
© Quelle: Eden Books
Zeit, Geduld und Mitgefühl können den Heilungsprozess unterstützen
Den Heilungsweg zu beschreiten, das erfordert Mut und Kraft. Heilung verläuft nicht linear. Jeden Tag weiterzumachen mit dem Labyrinth im Kopf, das zeugt von Stärke und Lebenswillen. Es ist nicht die Aufgabe von Betroffenen, möglichst schnell wieder reibungslos zu “funktionieren”. Sie dürfen Zeit, Geduld und Mitgefühl für ihren Weg brauchen. Natürlich das von unseren Mitmenschen und der Gesellschaft. Aber auch das von uns selbst.
Seit ich offen mit meiner Erkrankung umgehe, fällt es mir leichter, auch bei Rückschlägen oder Stagnation liebevoller mit mir zu sein. Es ist in Ordnung. Ich muss nicht wie Phönix aus der Asche steigen. Stattdessen gehe ich einen Tag nach dem anderen an, denn mehr gibt es nie auf einmal zu tun. Und dabei sind alle Gefühle erlaubt. Meine Erkrankungen fordern mich heraus, aber sie fordern mich auch dazu auf, offen über meine Emotionen und Ängste zu sprechen und damit andere zu ermutigen, dasselbe zu tun. Dann kann eine Erkrankung neben all dem Schmerz, der Last und den Hindernissen, die sie mit sich bringt, gleichzeitig auch eine Chance sein. Eine Chance zu mehr Verbundenheit durch ehrliche Kommunikation, durch das Zulassen von Verletzlichkeit und echter, menschlicher Wärme.
Anlaufstellen bei seelischen Krisen
- Telefonseelsorge: Unter den Telefonnummern 0800/111 0 111 und 0800/111 0 222 können Betroffene und deren Angehörige rund um die Uhr anonym Hilfe suchen – und zwar kostenfrei und bundesweit. Die Telefonseelsorge bietet auch Unterstützung per E-Mail und Chat sowie im persönlichen Gespräch über ihre derzeit 27 Beratungsstellen.
- Sozialpsychiatrische Dienste: In jeder Stadt und Gemeinde können sich Hilfesuchende an einen sozialpsychiatrischen Dienst wenden. Die Mitarbeiter beraten und vermitteln bei Bedarf weitere Hilfe. Die Dienste sind meist den Gesundheitsämtern zugeordnet. Kontaktdaten wie Adresse und Telefonnummer erhalten Interessierte über das kommunale Amt.
- Deutscher Kinderschutzbund: Der DKSB betreibt zwei kostenlose und bundesweit erreichbare Hotlines. Dazu zählen das Elterntelefon unter 0800/111 0 550 und das Kinder- und Jugendtelefon unter 0800/111 0 333. Zu festgelegten Zeiten beraten Mitarbeiter Eltern und Nachwuchs zu Sorgen aller Art.
- Webseite der Deutschen Depressionshilfe: Über die Webseite können Betroffene zudem je nach Ort nach Krisendiensten und Beratungsstellen suchen. In Notfällen sollte jedoch immer der Notruf unter 112 gewählt werden.