Coronavirus: Warum es keine Herdenimmunität geben wird
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Der Begriff der Herdenimmunität wird oft auch als Synonym dafür verwendet, das Krankheitsgeschehen insgesamt einzudämmen oder neue Infektionswellen durch hohe Impfquoten aufzuhalten.
© Quelle: imago images/PA Images
Immer mehr Experten und Expertinnen sagen: Eine Herdenimmunität gegen das Coronavirus wird es nicht geben. Unter anderem hatte zuletzt der Virologe Hendrik Streeck betont, mit den verfügbaren Impfstoffen lasse sich keine Herdenimmunität erreichen. Die Vakzine seien dafür auch gar nicht entwickelt worden, sondern für den Eigenschutz. Und auch der Berliner Virologe Christian Drosten sagte kürzlich in einem Interview, es sei von Anfang an ein Missverständnis gewesen zu glauben, eine hohe Impfquote könne auch Ungeimpfte schützen.
Das Wort „Herdenimmunität“ sei in der jetzigen Pandemie von Anfang an falsch verwendet worden, sagte der Epidemiologe und ehemalige Sars-Forschungskoordinator der WHO, Klaus Stöhr, vor wenigen Tagen im Interview mit dem „Neuen Deutschland“. Der Begriff stamme aus der Tiermedizin und beziehe sich auf die Idee, dass eine Krankheit insgesamt zum Erliegen kommt, wenn ein bestimmter Anteil von Tieren einer Herde immun ist – weil ein Erreger dann nicht mehr weitergegeben werden kann. Das setze aber voraus, dass Impfung oder Infektion eine „sterile Immunität“ erzeugen, also nicht nur eine Erkrankung, sondern auch Infektionen effektiv verhindern. Dies sei beim Coronavirus eben nicht der Fall. Auf seinem Twitter-Account betonte Stöhr bereits im April: „Es wird keine Herdenimmunität im klassischen Sinn geben.“
Begriff wird oft nicht korrekt verwendet
Tatsächlich wird der Begriff der Herdenimmunität oft auch als Synonym dafür verwendet, das Krankheitsgeschehen insgesamt einzudämmen oder neue Infektionswellen durch hohe Impfquoten aufzuhalten. Doch während die Impfungen immer noch einen großen Teil der schweren Verläufe verhindern, schützen sie mit dem Aufkommen neuer Varianten wohl zunehmend weniger vor einer Infektion mit dem Virus.
Dass selbst eine höhere Durchimpfung als in Deutschland die Verbreitung des Virus nicht stoppen kann, zeigt sich gerade in Israel, wo etwa 64 Prozent der Bevölkerung vollständig immunisiert sind und die Sieben-Tage-Inzidenz bei über 300 liegt. In Großbritannien sind rund 59 Prozent der Bevölkerung geimpft, die Inzidenz lag vor Kurzem noch über 400 und nun bei knapp unter 300. In Gibraltar wird sogar eine Impfquote von 100 Prozent angegeben – die Inzidenz kletterte zuletzt auf über 600. In Island, das eine ebenfalls sehr hohe Impfquote von 75 Prozent hat, liegt die Inzidenz momentan bei fast 200.
Das Virus breitet sich dabei nicht ausschließlich in den ungeimpften Teilen der Bevölkerung aus. Vielmehr führt die neue Delta-Variante weltweit zu Infektionen auch bei vollständig Immunisierten. Einer aktuellen britischen Pre-Print-Studie zufolge waren 44 Prozent der untersuchten Neuinfektionen in Großbritannien bei Geimpften aufgetreten. Die Autoren und Autorinnen schätzen, dass Geimpfte zu rund 50 Prozent vor Infektionen mit der Variante Delta geschützt sind und diese auch weitergeben können – womöglich mit einer ähnlich hohen Wahrscheinlichkeit wie Ungeimpfte.
Darauf deutet auch eine Untersuchung der amerikanischen Gesundheitsbehörde Centers for Disease Control an Prevention (CDC) hin. Darin wurde der sogenannten Ct-Wert der PCR-Tests von Geimpften und Ungeimpften verglichen, ein Marker, der Aufschluss über die Viruslast und damit die Ansteckungsgefahr gibt, die von einer infizierten Person ausgeht. Es wurde kaum ein Unterschied festgestellt. Die CDC gehen derzeit aber davon aus, dass Geimpfte wahrscheinlich kürzer ansteckend sind als Ungeimpfte.
RKI: Krankheit kann nicht durch Herdenschutz zum Erliegen gebracht werden
Das Robert Koch-Institut geht in seinem „Epidemiologischen Bulletin“ vom 8. Juli auf das Prinzip der Herdenimmunität ein. Dass die Krankheit durch einen Herdenschutz zum Erliegen gebracht werden könne, sei zweifelhaft, heißt es dort. Es sei aber realistisch, dass die Viruszirkulation durch eine hohe Immunität in der Bevölkerung verringert werden könne. Das RKI ging damals allerdings noch davon aus, dass die Impfungen nicht nur gut vor schweren Verläufen, sondern auch vor Infektionen schützen und „vollständig geimpfte Personen in Bezug auf die Epidemiologie der Erkrankung keine wesentliche Rolle mehr spielen“.
Rückgang schwerer Verläufe auch ohne Herdenimmunität
Die vom RKI ausgegebenen Impfziele einer Immunisierung von 90 Prozent der über 60-Jährigen und 85 Prozent der unter 60-Jährigen verfolgt auch nicht in erster Linie eine Herdenimmunität. Das Institut erhofft sich vielmehr, dass bei diesen Werten genug Menschen einen Individualschutz haben, um eine Belastung der Intensivstationen zu verhindern, wie aus dem „Epidemiologischem Bulletin“ hervorgeht.
Die gute Nachricht ist, dass schon eine hohe Impfquote der Risikogruppen genügen könnte, um die meisten schweren Verläufe zu verhindern. Denn selbst bei höheren Inzidenzen gilt inzwischen: Überall dort, wo ein großer Anteil der Risikogruppen geimpft ist, erkranken deutlich weniger Menschen schwer an Covid-19 und es sterben auch weniger. In Großbritannien liegen die Fallzahlen ähnlich hoch wie bei der letzten Corona-Welle im Winter. Damals starben dort durchschnittlich 1200 Personen pro Tag an oder mit Covid-19, momentan sind es gerade einmal 87, bei mehr als 55 Millionen Einwohnerinnen und Einwohnern.
Das Ausbleiben einer Herdenimmunität bedeutet also nicht, dass es weiterhin schwere Krankheitswellen geben wird. Experten wie Stöhr gehen vielmehr davon aus, dass Sars-CoV-2 zwar immer weiter zirkulieren wird und saisonal vermehrt auftreten kann. Die Situation werde aber bald der bei anderen Atemwegserkrankungen ähneln, schreibt der Wissenschaftler in einer Stellungnahme. Da nach und nach immer mehr Menschen entweder geimpft sind oder eine Infektion auf natürlichem Wege durchgemacht haben, wird die Zahl der schweren Verläufe also wahrscheinlich irgendwann niedrig bleiben – auch ohne Herdenimmunität.