Corona in Malaysia: Menschen in Not hissen weiße Flaggen
:format(webp)/cloudfront-eu-central-1.images.arcpublishing.com/madsack/GKIKEB3CXZDPRGDXAWA3JJGPQQ.jpg)
Wegen der hohen Infektionszahlen hat die Regierung in Malaysia strenge Ausgangsbeschränkungen verhängt.
© Quelle: imago images/ZUMA Wire
Kuala Lumpur. Als Mohamad Nor Abdullah spätabends eine weiße Flagge vor seinem Fenster aufhängt, rechnet er nicht damit, unmittelbar Unterstützung zu erhalten. Doch bereits am nächsten Morgen bieten ihm Dutzende Unbekannte Essen, Geld und Worte der Ermutigung an. Der 29-Jährige, der ohne Arme zur Welt kam, sagt, er habe durch Zufall auf Facebook von der Kampagne #benderaputih (deutsch: #weißeflagge) erfahren und sich entschieden, Hilfe zu suchen.
Am vergangenen Wochenende wurde der landesweite Lockdown zur Eindämmung der Coronapandemie in Malaysia verschärft. In einigen Gebieten dürfen die Menschen ihre Häuser nur noch verlassen, um das Notwendigste einzukaufen. Mohamad Nor, der vom Verkauf des beliebten kokosbasierten Reisgerichts Nasi Lemak lebt, trieb das in die Verzweiflung. Er hatte kein Einkommen mehr und die Hilfsgelder der Regierung reichten nicht aus.
Finanzielle Not lässt auch Selbstmordrate steigen
Die sogenannte Weiße-Flagge-Kampagne soll Menschen wie ihm helfen. Sie ist eine Reaktion der malaysischen Gesellschaft auf die steigende Selbstmordrate, die mit finanziellen Nöten im Zusammenhang mit der Coronapandemie in Verbindung gebracht wird. Die Polizei verzeichnete während der ersten fünf Monate des Jahres insgesamt 468 Suizide. Das entspricht durchschnittlich etwa vier Selbsttötungen pro Tag und bedeutet im Vergleich zum Vorjahr mit insgesamt 631 Suiziden einen deutlichen Anstieg.
In den sozialen Medien wurde daher dazu aufgerufen, dass Menschen in akuten Notlagen mittels einer weißen Flagge oder eines weißen Tuchs, „ohne betteln zu müssen oder Scham zu empfinden“, um sofortige Hilfe bitten können. Zahlreiche Lebensmittelhändler und Prominente boten daraufhin ihre Hilfe an. Auch fuhren zahlreiche Malaysier ihre Nachbarschaft ab, um Ausschau nach weißen Fahnen zu halten.
Ein Zeichen von Einheit und Solidarität
„Es war so unerwartet. So viele Menschen haben mir geholfen, mich unterstützt und auch ermutigt“, sagt der inmitten von Spenden-Kisten mit Keksen, Reis, Speiseöl und Wasser sitzende Mohamad Nor. „Barmherzige Samariter“ hätten zudem angeboten, ihm zu helfen, die Miete für sein Zimmer zu bezahlen, sagt er. Die Unterstützung sei ausreichend, um ihn durch die nächsten Monate zu bringen.
Zuletzt bewegten ergreifende Berichte von weiteren Menschen, die nach dem Hissen einer weißen Flagge Hilfe erhielten, die Malaysier: Eine alleinerziehende Mutter und ihre Tochter im Teenageralter, die sich tagelang von Keksen ernährten, wurden von Nachbarn mit Essen versorgt. Ein verschuldeter Straßenhändler, der kurz davor stand, sich das Leben zu nehmen, erhielt Bargeld, um neu anzufangen. Eine aus Myanmar geflüchtete Familie, die mit nur einer Mahlzeit am Tag überlebte, erhielt Lebensmittelvorräte.
Corona-Einschränkungen kosten Tausende Menschen ihre Arbeitsplätze
Viele begrüßen die Weiße-Flagge-Kampagne als ein Zeichen von Einheit und Solidarität. Doch es gibt auch Widerspruch. Ein Abgeordneter einer islamistischen Partei, die Teil der Regierungskoalition ist, zog etwa den Zorn der Öffentlichkeit auf sich, weil er die Menschen aufforderte, zu Gott zu beten, statt als Zeichen der Kapitulation eine weiße Flagge zu hissen. Ein ranghoher Minister auf Landesebene bezeichnete die Kampagne als Propaganda gegen die Regierung von Ministerpräsident Muhyiddin Yassin.
Die in Malaysia erlassenen Maßnahmen zur Einschränkung der Bewegungsfreiheit haben dazu geführt, dass Tausende Menschen ihre Arbeit verloren. Seit Juni gilt der zweite landesweite Lockdown seit mehr als einem Jahr. Zudem wurde ein coronabedingter Ausnahmezustand verhängt, aufgrund dessen das Parlament bis zum 1. August suspendiert ist.
Regierungskritiker fordern Rücktritt des Parlaments
Inzwischen gibt es weitere Kampagnen, die ebenfalls auf Flaggen setzen. Eine Tierschutzorganisation ermunterte Menschen, die sich das Futter für ihre Haustiere nicht mehr leisten können, rote Flaggen aufzuhängen.
Am Wochenende startete zudem eine Kampagne, bei der Oppositionelle und andere Regierungskritiker schwarze Fahnen in den sozialen Medien posten, um den Rücktritt des Ministerpräsidenten und ein Ende des Ausnahmezustands sowie der Suspendierung des Parlaments zu fordern. Die Polizei sagte Berichten zufolge, dass sie die Kampagne wegen Volksverhetzung, Störung der Öffentlichkeit und Missbrauchs von Netzwerkeinrichtungen untersuche.
Muhyiddin, der nach dem Fall der vorherigen reformorientierten Regierung im März 2020 die Macht übernahm, wird sowohl von der Opposition als auch aus den Reihen der eigenen Koalition herausgefordert. Solange das Parlament suspendiert ist, kann es aber keine Vertrauensfrage unter den Abgeordneten geben.
Kampagne dient als politische Waffe
Die Weiße-Flagge-Bewegung könne die öffentliche Wut über die wahrgenommene Unfähigkeit der Regierung, die Krise zu bewältigen, anheizen, sagt James Chin, Asienexperte an der australischen Universität von Tasmanien. „Die Weiße-Flagge-Kampagne wird zweifellos als eine wichtige politische Waffe eingesetzt werden, um zu zeigen, dass die Regierung gescheitert ist.“
Die Zahl der Coronavirus-Fälle in Malaysia stieg zuletzt auf insgesamt mehr als 778.000. Im Vergleich zum gesamten letzten Jahr hat sich die Zahl somit fast versiebenfacht.
RND/AP