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Schwerste Form angeborener Immunschwäche

Gentherapie gegen Immundefekt Artemis-SCID zeigt Erfolge

Vor dem Immundefekt SCID kann Kinder eine Knochenmarkspende schützen. Infrage kommen inzwischen auch Gentherapien.

Vor dem Immundefekt SCID kann Kinder eine Knochenmarkspende schützen. Infrage kommen inzwischen auch Gentherapien.

Kinder, die mit dieser Erkrankung zur Welt kommen, hatten noch vor wenigen Jahrzehnten eine schlechte Prognose. Beim Schweren Kombinierten Immundefekt (SCID) bietet die Körperabwehr aufgrund einer Genvariante kaum Schutz vor Infektionen. Es ist die schwerste Form von angeborener Immunschwäche – unbehandelt überleben viele Kinder das erste Lebensjahr nicht.

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„Bubble Boy“ David: Knochenmarktransplantation bot Kindern mit SCID Aussicht auf Heilung

Für Aufsehen sorgte in den 1970er Jahren in den USA der sogenannte „Bubble Boy“ David Vetter: Um Infektionen zu verhindern, lebte der Junge jahrelang in einem speziellen Zelt, das ihn hermetisch von der Außenwelt abschirmte. Die US-Raumfahrtbehörde Nasa entwickelte sogar einen Schutzanzug für ihn. Dennoch starb Vetter 1984 im Alter von 12 Jahren nach einer Knochenmarktransplantation, die das Epstein-Barr-Virus enthalten hatte.

Trotz dieses Schicksals: Die ab 1968 genutzte Übertragung von Knochenmark bot Kindern mit SCID eine Aussicht auf Heilung: Denn das Knochenmark eines gesunden Spenders enthält reichlich Stammzellen, die sich zu Zellen des Immunsystems entwickeln und dem Kind zu einer funktionierenden Körperabwehr verhelfen können. Doch das erfordert einen passenden Spender wie etwa ein Geschwisterkind, um Komplikationen nach der Transplantation wie Immunreaktionen möglichst gering zu halten.

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Auch der „Bubble Boy“ David Vetter bildete aufgrund eines Gendefekts keine funktionierende Immunabwehr aus.

Auch der „Bubble Boy“ David Vetter bildete aufgrund eines Gendefekts keine funktionierende Immunabwehr aus.

Frühere Gentherapie aktivierte unbeabsichtigt Krebsgene

Seit den 1990er Jahren werden auch Gentherapien bei SCID eingesetzt. Deren Prinzip klingt wesentlich eleganter – zumindest in der Theorie: Wie bei der Knochenmarktransplantation soll dem Erkrankten zu einer funktionierenden Immunabwehr verholfen werden. Dazu werden den Patienten zunächst eigene, defekte Stammzellen aus dem Knochenmark entnommen und im Labor mithilfe eines Virus mit einer intakten Kopie des fehlerhaften Gens versehen. Danach werden die Zellen dem Körper wieder zugeführt.

Damit entfällt einerseits die aufwendige und mitunter erfolglose Suche nach einem passenden Knochenmarkspender. Zum anderen sinkt das Risiko für die gefürchteten Immunreaktionen, denn die zugeführten Zellen stammen vom Empfänger selbst. Dennoch: Gerade in der Frühzeit der Gentherapie gab es heftige Rückschläge. Viele Betroffene erkrankten an Leukämie, weil die Gentherapie unbeabsichtigt Krebsgene aktivierte.

Doch in den vergangenen Jahren haben Mediziner wiederholt erfolgreiche Studien zum Einsatz von Gentherapien gegen verschiedene Formen von SCID vorgestellt. Denn es gibt rund zwei Dutzend unterschiedliche Genmutationen, die die schwere Immunerkrankung – in jeweils unterschiedlicher Form – verursachen.

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Nun beschreibt ein Team um Morton Cowan von der University of California in San Francisco (UCSF) eine Gentherapie bei zehn Kindern mit Artemis-SCID – einer besonders schweren Form der Immundefizienz. Bei dieser extrem seltenen Variante fehlt wegen einer Mutation auf dem Gen DCLRE1C das zur DNA-Reparatur erforderliche Enzym Artemis. Das betrifft nicht nur das Immunsystem, sondern auch viele andere Teile des Organismus.

Eine weitere Besonderheit dieser SCID-Form ist, dass die Stammzelltransplantation seltener erfolgreich verläuft und nicht zur langfristigen Funktion von T- und B-Zellen führt. Viele Kinder leiden danach etwa an Wachstums- und Zahnproblemen sowie an Hormonstörungen.

Gehäuft betrifft diese Mutation bestimmte amerikanische Ureinwohner. In der Studie stellten Apache und Navajo vier der insgesamt zehn behandelten Kinder. Als erster Mensch mit Artemis-SCID weltweit wurde der Navajo-Junge Hataalii Tiisyatonii Begay, kurz HT, mit einer Gentherapie behandelt.

Seine Erkrankung wurde 2018 beim Neugeborenen-Screening festgestellt. „Der Kinderarzt sagte uns, es sei sehr ernst und HT müsse als Vorsichtsmaßnahme isoliert werden“, erzählt Großmutter Laverna Shorty in einer UCSF-Mitteilung. „Wenn man so etwas über sein Kind hört, steht die Welt still.“

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Studie: Alle Kinder bilden nach drei Monaten T- wie auch B-Zelle

Im Rahmen der Studie, die vor allem die Sicherheit des Vorgehens prüfte, wurden den Kindern – sämtlich unter fünf Jahre alt und ohne passenden Knochenmarkspender – zunächst Stammzellen aus dem Knochenmark entnommen. Später wurden die Stammzellen dann mit dem korrigierten Gen wieder zugeführt.

Kurz vor der Gabe bekamen die Patienten eine zweitägige milde Chemotherapie. Diese gängige Prozedur soll im Knochenmark Platz schaffen für die Neuankömmlinge. „Man will so ermöglichen, dass Nischen frei werden, in denen sich die genmodifizierten Stammzellen ansiedeln“, erläutert der Immunologe Manfred Hönig von der Uniklinik Ulm, der nicht an der Studie beteiligt war.

Allerdings reagieren gerade Menschen mit Artemis-SCID äußerst empfindlich auf Chemotherapien. Daher verabreichte das Ärzteteam den Kindern nur einen Bruchteil der bei Knochenmarktransplantationen üblichen Menge.

Alle zehn Kinder bildeten nach drei Monaten T- wie auch B-Zellen, alle waren gesund und lebten bei ihren Familien. Fünf der sechs Kinder, deren Therapie zwei Jahre zurücklag, entwickelten ein voll hergestelltes T-Zell-System. Bei vier Kindern galt das auch für B-Zellen. Sie konnten den bis dahin nötigen Ersatz von Immunglobulinen – Antikörperpräparate zur Unterstützung der Körperabwehr – absetzen und auch gegen Krankheiten geimpft werden.

Bei drei weiteren Teilnehmern, bei denen die Therapie noch keine zwei Jahre zurücklag, gebe es vielversprechende Tendenzen, hieß es. Ein Kind, das schon vor der Therapie mit einem Virus infiziert war, benötigte eine zweite Gabe korrigierter Stammzellen, wie das Team im „New England Journal of Medicine“ berichtet.

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Forschende: Resultate sind bisherigen Ergebnissen weit überlegen

Die Resultate seien bisherigen Ergebnissen nach Knochenmarktransplantation weit überlegen, schreibt das Team. „Dass Patienten in der Studie eine völlige T-Zell-Immunität erreichen, ist herausragend“, wird Studienleiterin Jennifer Puck in einer Mitteilung der University of California zitiert. „Die Erholung der B-Zellen dauert länger, aber bisher haben die Patienten eine wesentlich bessere Aussicht auf Wiederherstellung der B-Zellen als mit einer üblichen Knochenmarktransplantation.“

Auch die Minimierung der Chemotherapie sei ein großer Fortschritt: So sei die Dosis des Wirkstoffs Busulfan die geringste, die je in einer Gentherapiestudie eingesetzt worden sei, schreibt Sung-Yun Pai vom National Cancer Institute der USA in einem „NEJM“-Kommentar. Auf eine unkontrollierte Zellvermehrung – also eine Krebserkrankung als Folge der Therapie – gab es derweil keinerlei Hinweise.

Die Zeit der Nachbeobachtung dauerte zwischen 10 und 49 Monaten, im Mittel 31 Monate. Am Ende der Studie waren die Kinder zwischen 18 Monate und 4,5 Jahre alt. Angesichts dieses begrenzten Beobachtungszeitraums bewertet der Ulmer Experte Hönig den langfristigen Erfolg zurückhaltend. „Für eine Bilanz ist es eindeutig noch zu früh.“

Erst die kommenden Jahre würden zeigen, ob zum einen die Wiederherstellung des Immunsystems von Dauer sei und zum anderen die mit einer Knochenmarktransplantation einhergehenden Komplikationen wie Wachstumsstörungen tatsächlich vermieden würden. Auch das Krebsrisiko ließe sich erst in etlichen Jahren abschätzen.

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„Meilenstein in der SCID-Therapie“

Auffällig findet Hönig vor allem eine Nebenwirkung der Gentherapie: Laut „NEJM“ entwickelten vier Patienten eine sogenannte autoimmunhämolytische Anämie (AIHA) – dabei greifen Autoantikörper die roten Blutkörperchen an. Inzwischen sei ein fünftes Kind betroffen, teilte Erstautor Cowan auf Anfrage mit.

Als Grund dafür vermuten die Autoren, dass sich bei den Kindern die B-Zellen schneller erholten als jene T-Zellen, die mögliche Autoimmunreaktionen kontrollieren. In der Studie verliefen alle Fälle glimpflich. Dennoch sei AIHA eine gefürchtete, potenziell lebensbedrohliche Nebenwirkung, sagt Hönig.

Unabhängig davon bewertet der Experte die Studie als „Meilenstein in der SCID-Therapie“: „Das ist eine wichtige Ergänzung zu den bisher möglichen Therapien.“

Bei den neun aus den USA stammenden Kindern war die Krankheit beim Neugeborenen-Screening festgestellt worden. Gerade diese frühe Diagnose sei extrem wichtig, damit die Kinder schon vor Ausbruch der Manifestation klinischer Zeichen der SCID-Erkrankung identifiziert werden könnten, sagt Hönig. „Dadurch bleiben ihnen Infektionen erspart, und sie sind zum Zeitpunkt der Transplantation in besserer Verfassung.“

In Deutschland werden Neugeborene seit August 2019 auf SCID untersucht. Schätzungen gehen davon aus, dass hierzulande pro Jahr etwa 20 betroffene Kinder ermittelt werden. Eine frühe Therapie könne ihre Überlebenschance von etwa 50 Prozent auf mehr als 90 Prozent erhöhen, glauben Experten.

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Als Gentherapie ist in Europa seit 2016 lediglich das Präparat Strimvelis für die Form ADA-SCID zugelassen – und auch nur dann, wenn kein passender Knochenmarkspender gefunden wird. Darüber hinaus sind hier zwar Gentherapien bei einer ganzen Reihe von angeborenen Immundefekterkrankungen grundsätzlich möglich, aber angeboten werden sie derzeit nur im Rahmen von Studien.

RND/dpa

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