Nicht zu streng, aber auch nicht zu behütet – wie Eltern diese Balance gelingen kann
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Eine glückliche Familie liegt zusammen auf einem Teppich.
© Quelle: imago images/Westend61
Frau Hummel, „Nicht zu streng, nicht zu eng“ ist der Titel Ihres Buches über Kindererziehung. Unter Ersterem kann man sich leicht etwas vorstellen, was aber bedeutet für Sie „zu eng“?
Viele Eltern möchten heute eine moderne Pädagogik mit ihren Kindern leben und weg von Strafen und autoritärem Verhalten. Nur sind sie auf diesem Weg oft unsicher und kommen dann davon ab — in die eine oder andere Richtung. Manche Eltern glauben, sie sind in guter Beziehung zum Kind, fallen dann aber in ein Überbehüten, sie erziehen also zu eng. Aus einer Konfliktscheue heraus und mit dem großen Wunsch, auf keinen Fall autoritär zu sein, beginnt das falsche Verwöhnen.
Die Gesellschaft würde den meisten Eltern doch eher zuschreiben, zu locker als zu streng zu sein. Oder?
Das ist vielleicht der erste Eindruck. Aber ich sehe es selber, dass es oft umschlägt.
Ist die Überbehütung denn tatsächlich ein starkes gesellschaftliches Phänomen?
Das denke ich schon. Wir nehmen die Kinder zwar endlich mehr in den Fokus, aber es ist an vielen Stellen, sagen wir, ein bisschen drüber. Weil wir eben noch auf der Suche sind – weg von dem autoritären Erziehungsbild, das lange Eltern-Kind-Beziehungen geprägt hat. Es ist also durchaus die Aufgabe unserer Zeit, den richtigen Mittelweg zu finden.
Wie entwickeln sich Kinder, wenn sie zu eng oder zu streng erzogen werden?
Was ich in meiner Arbeit erlebe ist, dass sich Kinder, die zu überbehütet groß werden, in Beziehungen schwertun – etwa Rücksicht zu nehmen und kompromissbereit und lösungsorientiert zu streiten. Diesen Kindern kann es schwerfallen, bestimmte Herausforderungen auszuhalten.
Bei zu strengen Eltern kann es gerade in der Pubertät zu dem oft zitierten Generationenkonflikt kommen, weil bei den Jugendlichen nicht das Gefühl da ist, ernstgenommen zu werden. Kinder haben dann oft das Bedürfnis, sich sehr laut von den Eltern abzugrenzen – mit Streits, Beschimpfungen, Lügen.
Oder es geht in die Gegenrichtung und die Kinder werden ganz still und gehemmt, wenn sie das Gefühl haben, ihnen werde nichts zugetraut. Hinter dieser Strenge stecken dann oft auch ein Leistungsdruck und eine Leistungsangst. Ich hab das immer wieder auch erlebt, dass Eltern, die anfangs sehr beziehungsorientiert waren, mit dem Start der Schule plötzlich das Gefühl haben: Ich kann meinem Kind keinen Spielraum und keine Zeit geben, es muss jetzt funktionieren! Und da sind wir wieder bei der Kontrolle.
Was ist so problematisch daran, sein Kind zu verwöhnen?
Erst einmal finde ich den Begriff des Verwöhnens eigentlich total schön. Heute dürfen wir unsere Babys verwöhnen und müssen uns nicht mehr schlecht fühlen, wenn wir sie bei uns im Bett oder in der Trage schlafen lassen. Aber man muss schon genau beobachten, wann es ungesund wird. Und zwar sowohl für die Eltern, als auch für die Kinder.
Woran genau machen Sie das fest?
Wenn Eltern im Umgang mit ihren Kindern immer wieder über ihre eigenen Bedürfnisse gehen, dann ist das kein gutes Verwöhnen. Und wenn Eltern ihrem Kind Entwicklungschancen nehmen, in dem sie ihrem Kind immer wieder etwas abnehmen, dann ist das auch kein gutes Verwöhnen. Wenn ich beispielsweise ein schüchternes Kind habe und ständig alles für dieses Kind regle, statt ihm zu helfen, sich selbst zu trauen, dann stehe ich ihm im Weg.
Gibt es ganz konkrete Handlungen, bei denen Sie sagen: Das ist Verwöhnen! Oder ist das immer kontextabhängig?
Das ist total individuell, auch bei Babys. Man muss sich genau angucken, was ein Kind wirklich braucht. Das Kind kann vom Temperament oder von den Entwicklungsschwerpunkten unterschiedlich sein. Ein Beispiel: Wenn mein Kind gerade in der vor allem kognitiven Entwicklungsphase ist und es einfach gerne guckt, dann ist es total okay, das Kind viel in die Trage zu nehmen. Wenn ich aber ein Kind habe, das eigentlich gerade voll in der motorischen Entwicklung ist, klettern und Treppensteigen üben will, dann nehme ich ihm diesen Entwicklungsraum, wenn ich es in einer Tour trage. Bei zwei gleichaltrigen Kindern kann es also ganz unterschiedliche Antworten geben.
Und wie ist das zum Beispiel beim Thema Familienbett?
Auch da muss man genau schauen. Wenn mein Kind kein Problem hat, bei einer Freundin zu schlafen und auf Klassenfahrt zu gehen, dann ist das Familienbett überhaupt kein Problem. Aber wenn ich das Kind bei mir lasse, weil ich das eigentlich brauche, und damit dem Kind die Chance nehme, den Mut zu entwickeln bei der Freundin zu übernachten, dann ist das ein Problem.
Das Urteil von außen ist oft ein anderes und wiegt schwer. Wie können sich Eltern da mehr Sicherheit verschaffen?
Ich versuche Eltern mitzugeben, sich zum einen diese Kritik genau anzugucken. Vielleicht steckt ja etwas dahinter. Es geht also darum, sich nicht sofort angegriffen zu fühlen. Auf der anderen Seite aber dürfen wir auch für uns die Sicherheit finden, zu sagen: Ich habe mir das genau angeschaut, aber diese Kritik kann ich von mir schieben, denn ich weiß, dass mein Kind genau das gerade braucht und ich das auch leisten kann.
Ich versuche den Begriff Grenzen nicht zu benutzen. Ich sage lieber: Kinder brauchen Orientierung.
Inke Hummel,
Pädagogin und Autorin
Wie sieht es mit der Strenge aus? Ist es denn so falsch, für seine Kinder berechenbar sein zu wollen?
Nein, das ist für mich erst einmal beziehungsorientiert, wenn es mir darum geht, Orientierung zu geben. Die Frage ist aber das Wie. Nehmen wir mal einen Begriff, den viele nutzen: Grenzen. Ich kann sie auf eine zugewandte Art und Weise aufzeigen, oder auf eine distanzierte. Wenn ich meinem Kind Vorwürfe mache, Schulgefühle hervorrufe, mit ihm schimpfe – das ist distanziert. Alternativ gehe ich mit ihm in den Kontakt und erkläre wirklich, warum mir irgendwas wichtig ist, warum dieses Verhalten die Familie stresst oder warum ich glaube, dass das für mein Kind gerade nicht richtig ist. Das ist dann Beziehung.
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Inke Hummel ist Pädagogin und Bestseller-Autorin.
© Quelle: Benjamin Jenak
Also brauchen Kinder Grenzen?
Ich versuche den Begriff nicht zu benutzen. Ich sage lieber: Kinder brauchen Orientierung.
Warum wollen Sie nicht von Grenzen sprechen?
Grenze klingt für mich so starr, nach Gesetz. Nach: Bis hierhin und nicht weiter. Aber bei der Orientierung geht es auch um Mitgefühl, man lässt das Kind mitfühlen, was andere brauchen, was in Ordnung, was schwierig ist. Dann erlebt das Kind einen Spielraum und kann selbst sehen, wie weit es gehen kann.
Wie steht es denn um das Thema Ausnahmen? Darf man die machen oder wann sind Eltern dann nicht mehr zuverlässig?
Ganz grundsätzlich finde ich Folgendes wichtig: Rund um Kinder gibt es fast nie den einen richtigen Weg. So gut wie jeder Weg hat Vor- und Nachteile. Das heißt auch: Es ist eigentlich nie diese eine Entscheidung von Bedeutung, ob mein Kind noch ein zweites Eis isst oder heute mal bis zehn Uhr raus darf. Ich bestärke Eltern immer wieder darin, in diesen Situationen sich und das Kind zu sehen – und von diesen Gedanken „man müsste“ oder „was könnten die Nachbarn denken“ wegzukommen. Dann kann man das mit etwas mehr Gelassenheit angehen.
Woher weiß ich, ob ich zu streng oder zu eng erziehe? Dass wir Probleme in der Erziehung haben, merken wir ja leider meist erst dann, wenn das Kind älter und damit schon in den Brunnen gefallen ist.
Wirklich merken kann man das sehr oft an Verhaltensauffälligkeiten – sowohl beim Kind als auch bei mir. Wenn ich merke, dass ich immer wieder so laut werde, dass ich abends denke: „Was für ein fürchterlicher Tag!“, muss man genau hinschauen. Oder wenn das Kind in einer Tour herausforderndes Verhalten zeigt, dann ist es auch gut, auf das Erziehungsverhalten zu schauen. Viele erkennen sich in dem von mir beschriebenen Mechanismus wieder: Ich gebe, ich gebe, ich gebe und dann geht mir die Energie aus. Deswegen kann es auch innerhalb eines Abends sein, dass man von zu eng in „zu streng“ rutscht.
Eltern sind also nicht grundsätzlich eher auf der einen oder anderen Seite?
Es kann alles in einem vorkommen. Und dass man mal in die eine oder andere Richtung tendiert, ist überhaupt kein Problem. Niemand von uns ist immer nur beziehungsorientiert. Nur wenn es kontinuierlich wird, ist es ein Problem.
Die Kinder wachsen auch nicht in eine Welt, in der jeder beziehungsorientiert handelt. Was ist es, was sie für diese Welt brauchen?
Ich nutze am liebsten den Begriff Bewältigungskraft. Das bedeutet, dass wir den Kindern helfen, auf ihrem Weg aktiv zu werden, damit sie lernen mit ihren Problemen und Krisen umzugehen. Und das ist es, was Beziehungsorientierung mitgeben sollte. Ein falsches Verwöhnen gibt das den Kindern nicht mit.
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„Nicht zu streng, nicht zu eng. Dein sicherer Weg zwischen Schimpfen und falschem Verwöhnen“, Humboldt-Verlag, 18 Euro.
© Quelle: Humboldt-Verlag
Wie genau sieht denn dann der ideale Weg zwischen Enge und Strenge aus?
Sowohl strenge als auch überfürsorgliche Eltern nehmen sich die Sicherheit aus der Kontrolle. Sie wollen die Situation und die Kinder kontrollieren. Dabei ist es viel sinnvoller, sich die Sicherheit aus der Beziehung, aus dem Vertrauen und auch Wissen zu nehmen. Wenn ich informiert bin, kann ich dem Kind vertrauen und eben auch darauf vertrauen, dass es nicht darauf ankommt, immer die absolut richtige Entscheidung zu treffen.
Ein weiterer Punkt ist das Mitgefühl. Es ist wichtig, dass ich mein Kind mitfühlen lasse, wie es mir geht – und zwar ganz ehrlich. Damit es auch eine Motivation entwickeln kann, sich anzupassen und sich auch mal zurückzunehmen. Wichtig ist für mich aber auch das Thema Kommunikation. Die sollte lösungsorientiert sein und nicht schuldsuchend. Hilfreich könnte für Eltern in Konfliktsituationen so ein Erinnerungssatz sein, etwa: Worum geht es hier gerade wirklich? Statt nach einem Schuldigen zu suchen, suchen wir so nach einer Lösung.
Sie schreiben von zugewandter Führung. Was genau ist darunter zu verstehen?
Wenn ich zum Beispiel ein Kind habe, das Angst hat vor Wasser, dann würden herrische Eltern, die nur führen und nicht zugewandt sind, dieses Kind auf den Arm nehmen und mit ihm in den See gehen – auch wenn es weint. Wenn ich aber nur zugewandt bin und nicht führe, dann würde wahrscheinlich gar nicht mehr zum See fahren, weil das Kind so viel Angst vorm Wasser hat. Das zugewandte Führen oder Zumuten würde bedeuten, ich fahre mit meinem Kind zum See und schaue mir die Angst an, die da ist. Wir überlegen, was gruselig ist am Wasser, wir spielen mit den Füßen im Wasser oder gehen mal auf den Steg und gucken von oben. Wir machen also Schritt für Schritt, aber wir lassen es nicht bleiben. Das ist für mich zugewandte Führung.
Wie wirkt es sich auf Kinder aus, wenn Eltern es schaffen, auf diesem erzieherischen Mittelweg zu bleiben?
Soweit wir das aus der Pädagogik und Entwicklungspsychologie wissen, haben diese Kinder die größte Wahrscheinlichkeit, Lebenskrisen gut bewältigen zu können und relativ gesunde Erwachsene zu werden. Was überhaupt nicht ausschließt, dass die irgendwann mal beim Psychologen sitzen oder ein Schuljahr wiederholen oder auch in eine depressive Phase rutschen. Es geht immer nur um Wahrscheinlichkeiten – die aber sind bei diesen Kindern deutlich günstiger.