Kann es im Zeitalter von Google und Facebook noch Geheimnisse geben?
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Das gemeinsame Credo von Silicon-Valley-Milliardären und leichtgläubigen Politikern: Eine Welt ohne Geheimnisse kann nur eine bessere sein. Dabei brauchen wir Geheimnisse.
© Quelle: etraveler/iStock
Hannover. Lotta ist fast fünf. Sie wünscht sich ein Fahrrad zum Geburtstag. Dabei kann sie noch gar nicht Fahrradfahren. Sagen jedenfalls ihre größeren Geschwister Jonas und Mia-Maria. Aber das stimmt nicht, sagt Lotta, sie könne sehr wohl Fahrrad fahren: „Im Geheimen.“
Das „Geheime“. Ein Schutzraum der Kindheit. Ein magischer Ort, an dem die Fantasie das Faktenwissen schlägt, an dem das Wunsch-Ich Gestalt annimmt, so wie in Astrid Lindgrens Kinderbuchklassiker. Bis zum Alter von etwa vier Jahren kennen Kinder keine Geheimnisse. Sie glauben, dass alle Menschen alles über sie wissen: Eltern, Lehrer, Freunde – alle blicken direkt auf den Grund ihrer Seele.
Doch dann entdecken sie diesen Tanzpalast des Geistes. Diesen zauberhaften Kosmos, den sie ganz für sich alleine haben. Und plötzlich wird ihnen bewusst, dass sie selbst entscheiden können, was sie teilen und mit wem. Das Geheimnis wird zum mächtigen Werkzeug bei der Suche nach dem eigenen Platz in der Welt. Das Spiel um Abgrenzung, Loyalität, Zuneigung und die verbindende Kraft eines gemeinsamen Geheimnisses beginnt.
Verführt zur lukrativen Selbstentblößung
Das Geheimnis sei „eine der größten Errungenschaften der Menschheit“, schrieb der Soziologe Georg Simmel im Jahr 1906. Nach dem blinden Götterglauben der Antike, nach der Kirchen- und Königshörigkeit im Mittelalter, nach den bis heute wirkenden Schuld- und Angstsystemen der Mächtigen, dem die unmündigen Menschen sich schutzlos ausgeliefert wähnten, schuf erst die Aufklärung ein bürgerliches Bewusstsein für die Macht des eigenen Wissens. Für die Privatsphäre und das geistige Eigentum, über dessen Preisgabe nicht Fürsten, Priester und Dogmen entscheiden, sondern jeder Mensch selbst.
Doch diese Freiheit ist in Gefahr. Denn die Moderne ist wild entschlossen, der Welt unter dem Deckmantel des Fortschritts ihre letzten Geheimnisse zu entreißen. Im Zeitalter der totalen Information gerät das Geheimnis von vielen Seiten unter Druck: von Staaten, die sich vom durchleuchteten Bürger allgemeines Wohlverhalten versprechen.
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Von globalen Konzernen, die ihren Nutzern im Gegenzug für die lukrative Selbstentblößung verführerische Scheinlösungen bieten. Von Innenministern, die nach chinesischer Polizeistaatslogik glauben, dass sich das Anarchische im Menschen mit Rund-um-die-Uhr-Überwachung zum Wohle aller, die „nichts zu verbergen haben“, zähmen und einhegen ließe.
Das Ideal der Stunde ist der geheimnislose Mensch
Das gemeinsame Credo von Silicon-Valley-Milliardären und leichtgläubigen Politikern: Eine Welt ohne Geheimnisse kann nur eine bessere sein. Big Data werde den Planeten zum Paradies machen, sobald Menschen erst wie Computer funktionieren: exakt, objektiv und nüchtern statt ineffizient, krank, beleidigt und aggressiv.
Also heißt der neue Fetisch Transparenz. Und das Ideal der Stunde ist der geheimnislose Mensch: berechenbar, steuerbar, beeinflussbar. Nicht von Verboten genervt, sondern sanft verführt. Es ist das Modell Julia Klöckner. Und wir lassen es bereitwillig geschehen. Wer liest schon „Allgemeine Geschäftsbedingungen?“ Wer weiß wirklich, was Whatsapp mit unseren Fotos machen darf?
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Unsere Datenölspur nimmt uns das Mysteriöse. Und das Smartphone – die „tragbare Gestapo“, wie der Soziologe Harald Welzer schrieb – macht uns zu willigen Entblößern unserer selbst. „Wir wissen, wo du bist, wo du warst und worüber du nachdenkst“, sagte der Chef des Google-Mutterkonzerns Alphabet Eric Schmidt vor Jahren.
Unser Verhalten passt sich den Maschinen an
Sigmund Freud schrieb einst von den drei großen Kränkungen der Menschheit: Die Erde als Mittelpunkt des Universums? Auftritt Kopernikus. Der Mensch als Krone der Schöpfung? Auftritt Darwin. Sind wir dann wenigstens Herr in der eigenen Seele? Auftritt Freud. Nein, sagte der, unsere Psyche hat noch ganz andere Herren als das Ich.
Was wir nun erleben, ist eine Art vierte Kränkung: Der neue Gott ist die Mathematik, und mit sich bringt er das Gefühl, den Maschinen unterlegen zu sein, wenn wir nicht auch so flüssig funktionieren wie ein Amazon-Algorithmus. Statt sich künstliche Intelligenz also nutzbar zu machen, passt der Mensch umgekehrt – verführt von Annehmlichkeiten wie Fitnessarmbändern und Onlinespielchen – sein eigenes Verhalten an, bis es maschinenlesbar wird.
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In einem Neun-Minuten-Video namens „The Selfish Ledger“ entwirft Google die düstere Vision vom Menschen als biophysikalischem Rechenprozess. Nicht nur seine Gene, sondern sein gesamtes Verhalten wird sequenziert. Krankheiten, Kriege und Armut verschwinden, die rechnergestützte Vernunft übernimmt. Soweit das Heilsversprechen. Ein „Datenbuch der Menschheit“ soll entstehen. Doch wer wacht in der „Datokratie“ über den Datenschatz? Und welcher Konzern giert nicht danach, ihn zu Geld zu machen?
Die Geheimnisse der Mächtigen sind sakrosankt
Im neuen „Data Unser“ ist für „das Geheime“ kein Platz mehr. Für die selige Traumwelt von Lotta. Das Geheimnis taugt höchstens noch als Brutstätte für Psychosen und Traumata. Und als Fortschrittsverhinderer. Bis es gegen die Mächtigen geht.
Dann ist das Geheimnis plötzlich wieder sakrosankt: Wenn Whistleblower wie Edward Snowdon oder Chelsea Manning unter dem Druck ihres Gewissens Geheimnisse verraten, schreien diejenigen am lautesten „Verräter!“, die das Recht auf informationelle Selbstbestimmung am heftigsten bekämpfen: Regierungen, Geheimdienste, Digitalkonzerne.
Geheimnisse zu haben ist ein Menschenrecht. Im Schnitt 13 trägt jeder Mensch laut Studien mit sich herum, fünf davon hat er noch nie jemandem verraten. Es sind harmlose wie Omas Erdbeerkuchenrezept oder existenzielle wie hohe Schulden und schwere Krankheiten.
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Lassen Sie Ihren Kindern ihre Geheimnisse?
© Quelle: RND
Die Gesellschaft hat sich Brief-, Steuer-, Bank-, Industrie-, Beicht- und Arztgeheimnis verpasst. Sie kennt ihren Wert. Sie weiß, dass Firmen Geheimpatente brauchen und Patienten Schutzräume für schreckliche Wahrheiten. Mitteilen heißt auch teilen. Das bedeutet: Die Last verringern. Aber: Bisher entschieden wir meist selbst, wem wir was mitteilen. Dieses Prinzip ist in Gefahr.
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Wir brauchen Geheimnisse, um Mensch zu bleiben. Auch wenn sie eine Last sein können. Familientabus etwa können Narben im Erbgut mehrerer Generationen hinterlassen – Kinder leiden stellvertretend für ihre Eltern. Dieses epigenetische Gedächtnis gehört zur dunklen, toxischen Seite von Geheimnissen. „Das ist unser Geheimnis“, raunt auch der Kinderschänder. Es ist die teuflischste Perversion des Geheimen.
Das Grauen des Unausgesprochenen macht es Interessierten leicht, das Geheimnis pauschal zu verdammen. Aber wir brauchen es auch. Kinder sprechen Geheimsprachen, Teenager hängen Schilder mit der Aufschrift „Für Eltern verboten“ an die Tür und schließen ihre Tagebücher ab. Sperrgebiet Pubertät. Das Kinderzimmer – ein Tempel des Schweigens.
Geheimnisse dienen der Selbstabgrenzung
Eltern sind jetzt keine Götter und Helden mehr. Die Pubertät ist die Aufklärung der menschlichen Biografie. Das Geheimnis wird zur Währung von Freundschaften. Es hilft, Beziehungen aufzubauen, Loyalitäten zu schaffen. Das alles dient der Selbstabgrenzung. „Geheimnisse geben uns einen sicheren Hafen, der uns die Freiheit erlaubt, herauszufinden, wer wir sind“, schreibt die US-Psychiaterin Gail Saltz.
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Umgang mit Hasskommentaren: Millionen-Bußgeld für Facebook
Ein einmal verlorenes Geheimnis ist nicht wieder einzufangen. Das gilt auch für eine Gesellschaft. Wenn Millionen Geheimnisse in die vermeintliche Anonymität von Whatsapp-Chats wandern und Firmen milliardenfach Mails scannen, Gespräche mitlesen und das Einkaufsverhalten sezieren, geben wir unser Recht auf Unerkanntheit freiwillig auf.
70 Likes bei Facebook genügen, um die Persönlichkeit eines Menschen zu bestimmen: Introvertiert? Risikofreudig? Ein paar Klicks genügen. 150 Likes – und schon weiß Facebook mehr über uns als unsere Familie. Und bei 300 Likes weiß die Maschine mehr über uns als der eigene Partner.
Die Transparenzgesellschaft muss ihre letzten Geheimnisse verteidigen
Doch Menschen sind eben keine leeren Speichermedien, die sich beliebig programmieren lassen. Die Transparenzgesellschaft muss ihre letzten Geheimnisse verteidigen. Sonst regelt in zehn Jahren ein Social Score nach chinesischem Muster, wer einen Studienplatz bekommt und wer nicht. Knochenmark spenden: 50 Punkte plus. Hundehaufen nicht wegräumen: 5 Punkte minus. 1000 Punkte: Musterbürger. Weniger als 599 Punkte: Unehrlicher Mensch.
In der Stadt Rongcheng ist die IT-Diktatur Realität. Es ist ein fataler Irrglaube, dass lückenlose Überwachung alles Böse tilgt. Und dass Firmen wie Google oder Facebook sich auch nur für eine Sekunde dem Gemeinwohl verpflichtet fühlen könnten.
Von Imre Grimm/RND