Victor Klemperer – Chronist eines extremen Jahrhunderts

Seit 1995 gilt Victor Klemperer als eine zentrale Gestalt der deutschen Kulturgeschichte. Seine Chronik vom Absturz einer Nation in die Barbarei, die minutiöse Beschreibung vom Leidensweg der deutschen Juden am Beispiel Dresdens ist von einem überwältigend großen, auch internationalen Publikum als eines der eindrucksvollsten Zeugnisse jener grausamen Zeit gelesen worden. Fünf Jahrzehnte nach Kriegsende veröffentlicht, haben Klemperers Tagebücher einen neuen Blick auf die Ereignisse eröffnet. Assimilation in die deutsche Kultur: Der Chronist freilich sah sich selbst zuerst als Romanist. Anfang des Jahrhunderts hatte der 1881 in Landsberg/ Warthe geborene Klemperer in Berlin, München, Genf und Paris französische Literatur und Philosophie studiert und sich über Montesquieu habilitiert. Mehr als 400 Veröffentlichungen hat er mit enormem Fleiß in seinem komplizierten Arbeitsleben realisieren können, doch berühmt gemacht hat ihn die „Begleitmusik“ dazu: seine sechs Jahrzehnte lang kategorisch durchgehaltenen täglichen Tagebuchnotizen, ein intimes Arbeitsinstrumentarium der Selbstvergewisserung von höchster Präzision. Die Anfechtungen der äußeren Biografie haben die Besonderheiten dieser „Balancierstange Tagebuch“ stimuliert: Wie für viele andere jüdische Intellektuelle auch, war Assimilation in die deutsche Kultur für Klemperer ein wesentlicher Impuls, er bestimmte die Berufswahl, seine Konversion zur evangelischen Kirche, den ersten Arbeitsort Berlin. Aber eine ordentliche Professur war für den Juden auch in der Weimarer Republik nicht ohne Schwierigkeiten, und so ist sein Beginn am Lehrstuhl Romanistik der Allgemeinen, der „humanistischen“ Abteilung der Technischen Hochschule Dresden im Jahr 1920 eher ambivalent. Dann aber leben er und seine Frau Eva sich schnell hier ein, und für Klemperer beginnt eine Phase großer Produktivität. Jahrzehnte werden sie schließlich in der Stadt wohnen, gemeinsam die Odyssee der Nazizeit ertragen mit Berufsverbot und Judenhaus (nur die sogenannte „Mischehe“, d. h. die Tapferkeit seiner Frau ermöglicht das Überleben) und schließlich von ihrem Dölzschener Häuschen aus den Neuanfang nach 1945 wagen. Von Alois Andritzki bis Udo Zimmermann – Alle Porträts in unserem Special Klemperer, eigentlich schon Pensionär, stürzt sich in ein zweites Arbeitsleben mit Professuren in Greifswald, Halle, Berlin, Dresden, er leitet den sächsischen Kulturbund, wird Volkskammermitglied, ist im Deutschen PEN und der Akademie der Künste – ein ringsum geehrter, gefragter „Genosse Klemperer“, was er selbstironisch kommentiert. Sein „LTI“ (Sprache des Dritten Reiches) wird im Osten ein berühmtes, provozierendes Buch. Nach Evas Tod 1951 heiratet er ein zweites Mal; es werden glückliche Jahre. In seiner öffentlichen Rolle fühlt er sich gleichwohl „zwiespältiger denn je“. Und wieder ist das Tagebuch in der Misere der einzige Ort der Wahrheit. „Zwischen allen Stühlen“, so der Titel der beiden Tagebuchbände der Nachkriegszeit bis zu Klemperers Tod 1960, wird als Zeugnis der fortgesetzten Tragödie namens DDR von ähnlicher Intensität wie die Beobachtungen an der braunen Diktatur. Aus den Dresdner Neuesten Nachrichten vom 20. Juni 2000. Von Hans-Peter Lühr

100 Dresdner des Jahrhunderts - Victor Klemperer – Chronist eines extremen Jahrhunderts