Rainer Fetscher – Ein Humanist, der sich zu seinen Irrtümern bekannte

Der am 26. Oktober 1895 in Wien geborene Arzt und Wissenschaftler Rainer (eigentlich René Felix) Fetscher hat viele Etikettierungen: Hochschullehrer und Humanist, Sozial- und Rassenhygieniker, Ehe- und Sexualberater, aufopferungsvoller praktischer Arzt und Antifaschist, Dichter und nicht zuletzt Familienvater. Aus der Ehe mit der früheren Pflegerin Kläre Müller gingen drei Kinder hervor, von denen der Politologe Iring Fetscher den Bekanntheitsgrad des Vaters noch übertrifft. Rainer Fetscher war 13 Jahre lang Mitarbeiter der Technischen Hochschule und hat mehr als 200 Publikationen veröffentlicht. Dresden, die Stadt seines beruflichen Wirkens, ehrt ihn auf vielfältige Weise: mit einem Gedenkstein, einer Straße und einem Platz, in Schulen und Heimen. Trotzdem weiß die Öffentlichkeit im Grunde wenig über den Mediziner mit der widersprüchlichen Biografie, der zuerst von den Nationalsozialisten und anschließend von den Kommunisten vereinnahmt wurde. Die Persönlichkeit des Dresdner Professors ist kaum erforscht. Das konstatierte die Geschichtswissenschaft noch vor fünf Jahren, anlässlich seines 100. Geburtstages. Selbst die Umstände seines Todes sind bis heute nicht restlos geklärt. „Ich gestehe, in vielen Dingen geirrt zu haben“: Fetscher befasste sich am Ende des Zweiten Weltkriegs bereits mit der Neugestaltung des Gesundheitswesens in Dresden, als er am 8. Mai 1945 auf der Prager Straße in Höhe Ferdinandplatz erschossen wurde. Drei Tage soll seine Leiche noch am Straßenrand gelegen haben. Gemeinsam mit einem KP-Funktionär sei Fetscher auf dem Weg zu den Sowjets gewesen, um die Stadt kampflos zu übergeben. Eine SS-Einheit habe die Kugel abgefeuert, hieß es jahrzehntelang. Inzwischen mehren sich Stimmen, die einen Rotarmisten als Schützen nennen. Seine letzte Ruhe fand der partiell Umstrittene, aber immer Humanist Gebliebene auf dem Heidefriedhof. „Der Weg zur Kenntnis des Menschen geht über die Liebe zum Menschen“, lautete sein wichtigster Grundsatz. Vielleicht sind es persönliche Zitate, die das Fetscher-Bild am genauesten spiegeln. 1922 folgt der junge Doktor, der in Tübingen soeben über den „angeborenen Klumpfuß“ als Erbkrankheit promovierte, einem Ruf an das Hygiene-lnstitut der Technischen Hochschule Dresden. 1925 wechselt er an das Pädagogische Institut der TH. Fetscher lehrt zunächst als Privatdozent und mit erst 33 Jahren als außerordentlicher Professor Sozialhygiene an der mathematisch-naturwissenschaftlichen Fakultät. Einerseits will der aus gutbürgerlichen Verhältnissen Stammende die Lebensqualität der Ärmsten mit „verantwortungsbewusster Menschenliebe“ verbessern. Andererseits gerät er mit seinen Ansichten zu Vererbung und Eugenik (Lehre von der Erbgesundheit) schnell in die Nähe der Rassenideologie der Nazis. Eine von Fetscher erarbeitete „Erbbiologische Kartei“ erfasst die Daten Krimineller und ihres familiären Umfelds. Fetscher plädiert noch 1933 für eine künstliche Auslese und Sterilisation auch gegen den Willen der Betroffenen, wovon er sich 1944 jedoch eindeutig distanziert. Das Werturteil „lebensunwert“ durch eine Gemeinschaft folge nur der Zweckmäßigkeit und habe keinerlei Berechtigung, schreibt Fetscher in seinem „Confiteor“ (Sündenbekenntnis), das mit den bekannten Worten „Ich gestehe, in vielen Dingen geirrt zu haben“, eingeleitet wird. Von Alois Andritzki bis Udo Zimmermann – Alle Porträts in unserem Special Mehrfach führte eigenes Erleben Fetscher auf seinem ambivalenten Weg in gesellschaftlich zugespitzter Zeit (auch die kurze SA-Mitgliedschaft blieb Marginalie) zum Erkenntnis-Wandel. Dessen öffentliches Eingestehen macht den Wissenschaftler und Arzt menschlich. Victor Klemperer bescheinigte ihm eine „anständige Gesinnung“, ganz im Gegensatz zu vielen anderen TH-Kollegen, notierte der Romanist in seinem Tagebuch. Damals war Fetscher bereits vom Hochschuldienst suspendiert. Wissenschaftliche Arbeit war dem Nicht-Konformen so kaum mehr möglich. Ab 1934 half er in seiner Privatpraxis, direkt und uneigennützig: jüdischen Mitbürgern ebenso wie anderen Verfolgten. Während des Bombardements versorgte er Verwundete und kümmerte sich nach dem Zusammenbruch um die Einrichtung von Lazaretten. Parteipolitisch wollte er sich nie positionieren: „Ich bin kein Kommunist oder Sozialdemokrat. Ich werde bleiben was ich bin, ein bürgerlicher Demokrat“, bekannte Fetscher kurz vor seinem gewaltsamen Ende.“ Aus den Dresdner Neuesten Nachrichten vom 31. März 2000. Von Genia Bleier

100 Dresdner des Jahrhunderts - Rainer Fetscher – Ein Humanist, der sich zu seinen Irrtümern bekannte