Herbert Wagner – Dresdens erstes frei gewähltes Stadtoberhaupt

Mit einem Anruf am 9. Oktober 1989 beginnt das neue Leben des Elektronikingenieurs Herbert Wagner. Darauf ist der 41-Jährige, promovierter Naturwissenschaftler am volkseigenen Zentrum für Wissenschaft und Technik, der in Dresden Informationselektronik studiert hatte, keineswegs vorbereitet. Freiheit und Gerechtigkeit hatte der gläubige Katholik in der ökumenischen Versammlung wiederholt eingefordert, aber bis dahin nicht laut und öffentlich. Doch als am 8. Oktober 20 mutige Frauen und Männer auf der Prager Straße erstmals die aufmarschierte Gewalt des SED-Regimes friedlich stoppen, wird ein Sprecher der geborenen Gruppe der 20 gesucht. Der Initiator des friedlichen Dialogs, Kaplan Frank Richter, ruft am 9. Oktober 1989 Herbert Wagner an und bittet seinen Platz einzunehmen. „Ich habe gezögert. Mir ging die Revolution in Polen von 1981/82 durch den Kopf: Kampf, Kriegsrecht und ein Jahr Lagerhaft für die Führer“, erinnert sich Wagner. Doch das neue Gefühl der Hoffnung auf Veränderung ist stärker als die in den DDR-Jahren aufgestaute Verzweiflung und die Angst. „Ich hatte Angst, dass doch noch geschossen wird: Der äußerlich zart wirkende Elektronikingenieur Wagner tritt aus der Nische der Kirche heraus. Als Sprecher der Gruppe der 20 wird er der Gegenspieler des letzten von der SED bestimmten Oberbürgermeisters in Dresden, Wolfgang Berghofer. An Ablösung dachte Wagner damals noch nicht. „Nein, es ging um die Chance, das Gespräch zu nutzen und Zentimeter für Zentimeter Demokratie zu erstreiten.“ Trotz des Falls der Mauer am 9. November bewegen sich die friedlichen Revolutionäre bis Anfang Dezember 1989 auf unsicherem Terrain. „Ich hatte Angst, dass doch noch geschossen wird“, bekennt Wagner im Rückblick auf den 5. Dezember – bis dahin das Datum, wo es die Orangen und die Schokolade für den Nikolaustag zu kaufen gab. Gewehre auf die Dresdner gerichtet, die er für diesen Tag zur Demonstration vor dem Gebäude der Staatssicherheit aufrief, die Verantwortung lastete schwer. Viele Akteure des Herbstes 89 wollten den Sozialismus nicht abschaffen, sondern reformieren. Doch mit einem dritten Weg – einer DDR mit menschlichem Antlitz – hatte der 1948 in Neustrelitz geborene Herbert Wagner nichts am Hut. Seine Familie stammt aus der Gegend um Aussig/Ústi im Sudetenland, das sie nach Kriegsende verlassen musste. Der Vater war Bauingenieur, ein Großvater Dorfbürgermeister. Sein Enkel – kein Machtmensch, aber zäh und beharrlich – schaffte es bis an die Spitze der drittgrößten Stadt in Ostdeutschland. Von Alois Andritzki bis Udo Zimmermann – Alle Porträts in unserem Special Auf diesem Weg trat Wagner im Februar 1990 in die CDU ein. Ein Schritt, den er mit seinem Verständnis für Demokratie erklärt. Die Ost-CDU sei reformierbar, hatte er sich sagen lassen. Mit dem Nimbus des friedlichen Revolutionärs und seiner neuen Rolle als Reformer rückte Wagner im Mai 1990 an die Spitze der Demokratischen Union in Dresden – einem Wahlbündnis von CDU, Demokratischem Aufbruch und Liberaler Deutscher Forumspartei. Das Bündnis gewann mit einem Spitzenergebnis von 39,2 Prozent die ersten freien Wahlen nach Jahren der Diktatur. Und Herbert Wagner wird als erster wieder frei gewählter OB in die Geschichte eingehen. Aus den Dresdner Neuesten Nachrichten vom 17. November 2000. Von DNN

100 Dresdner des Jahrhunderts - Herbert Wagner – Dresdens erstes frei gewähltes Stadtoberhaupt