Heinrich Lahmann – Der Mann, der die Doktor-Laube erfand

Nur eine kleine, kaum noch wahrnehmbare Plattform oberhalb eines recht steilen Hanges am Stechgrund erinnert noch an die Zeit, als hier gestempelt wurde. Auf der Plattform stand einst eine Hütte, und in der saß ein Angestellter des Lahmann-Sanatoriums mit einem Stempel. Hatten die Kurgäste die 55 Stufen nach unten, und retour, die 55 Stufen wieder nach oben genommen – das Ganze dreimal täglich – bekamen sie einen Stempel in ihr Kurbuch. Jener, der sich die so unkonventionelle wie einfache Heilmethode für „angekränkelte Großstadtmenschen“ ausgedacht hatte, war Heinrich Lahmann. Der Mediziner, der 1887 erst 27-jährig auf den Weißen Hirsch gekommen war und am 1. Januar 1888 das „Dr. Lahmann physiatrische Sanatorium“ eröffnet hatte, glaubte an die Kraft der Natur. Scheinbar aber weniger an die der Vernunft – deshalb die Kontrollstempel. Kein weißer Kittel, kein Schreibtisch als Barriere: Als Lahmann, den man heute wohl einen Workaholic nennen würde, erst 45-jährig starb, zog die Trauerprozession auf dem Weg zum Waldfriedhof am Stechgrund entlang. Grund genug für die „Hirschler“, denen Lahmann in den vergangenen 18 Jahren Berühmtheiten aus der ganzen Welt als Kurgäste zugeführt hatte, die Straße nach dem Arzt zu benennen. Aber einer wie er, nicht nur bei der Anordnung der Badetemperatur seiner Patienten immer kalt oder heiß, aber lau nie, polarisierte noch im Tod. Sturm lief die „Bundesgesellschaft gegen das Kurpfuschertum“, als im Berliner Rathaus der Naturheilkundler mit einer Gedenkveranstaltung gewürdigt werden sollte. Der Berliner Senat ließ sich von den aufgebrachten Pfuscher-Gegnern nicht beirren. Die Ehrung fand statt. Und Recht hatten sie. Heute sind die Verdienste Heinrich Lahmanns unbestritten. Und im Zeitalter der exzessiven Gerätemedizin möchte man angesichts der Lahmann-Methoden gerne rufen: Zurück in die Zukunft. Lahmann nahm sich Zeit, nicht für sich, aber für die Patienten. Er ließ sie über ihre Familie erzählen, ihre Arbeit, ihr Leben eben. Erst dann interessierte er sich dafür, wo es körperlich zwickt. Ganzheitlichen Ansatz nennt man das heute, den Lahmann damals versuchte, auch seinen Medizinerkollegen im Sanatorium nahe zu bringen, indem er ihnen die Patienten nahe brachte – und zwar in der „Doktor-Laube“. Da saßen die Herren Mediziner, schwatzten miteinander, tranken Kaffee. Und wer von den Kurgästen Lust hatte, konnte sich dazu setzen. Kein weißer Kittel, kein Schreibtisch als Barriere. In der kleinen Laube wurde gegenseitige Distanz abgebaut und menschliche Nähe aufgebaut. Vielleicht war es schon damals so, dass simpel einen Beigeschmack von einfältig hatte. Trotzdem waren es die ganz einfachen Dinge, auf die Heinrich Lahmann unbeirrbar setzte: auf naturgemäße Ernährung und Luftbäder, auf Gymnastik und Freiübungen, auf die gesundende Kraft des Gemeinschaftslebens, auf hygienische Kleidung und Schwarzbrot. Grahambrot heißt das von ihm erfundene. Er ging sogar so weit, seine oft recht noblen Patienten „anzustellen“ – um Holz zu hacken zum Beispiel. Von Alois Andritzki bis Udo Zimmermann – Alle Porträts in unserem Special Der Erfolg gab Lahmann recht. Während 1888 die Zahl der Kurgäste 385 betrug, waren es 1903 schon über 3500, und 1905 stieg sie auf 3976. Darunter waren neben Deutschen auch Holländer, Schweden, Engländer, Österreicher, Franzosen, Russen, Amerikaner, Inder. Und manche tatsächlich Very Important Person – zum Beispiel Prinz Waldemar von Preußen. Später kamen viele andere hinzu von Heinz Rühmann bis Paul Lincke. Aber da war Heinrich Lahmann schon lange gestorben. Aber seine Ideen der menschlichen Medizin sind auch heute noch lange nicht tot. Aus den Dresdner Neuesten Nachrichten vom 7. Juli 2000. Von Heidrun Hannusch

100 Dresdner des Jahrhunderts - Heinrich Lahmann – Der Mann, der die Doktor-Laube erfand