Jazz und Weltmusik vorm Altar der Kirche in Pirna-Liebethal

Selbst als wegen des Coronavirus nirgendwo mehr Gottesdienste gefeiert werden durften, blieb es in der evangelischen Dorfkirche in Liebethal bei Pirna nicht völlig still. Adéla Drechsel, die aus der Tschechischen Republik stammende Geigerin aus dem Nachbarhaus, musizierte an den Sonntagnachmittagen für zufällige Gäste. Nicht einmal 280 Einwohner leben in dem Ort, der 1971 nach Pirna eingemeindet wurde. Doch die kleine Renaissancedorfkirche, deren Vorgängerbau 1373 erstmals urkundlich erwähnt wurde, hat sich mittlerweile zu einem wichtigen Ort sakraler Kultur in der Region entwickelt. Weil sie oberhalb eines beliebten Weges entlang der Wesenitz steht, zieht sie häufig die Aufmerksamkeit von Wanderern auf sich. Zumal ihre Mauern in frischem Weiß strahlen. 2012 ist die schlichte Saalkirche mit Vorhäuschen und schiefergedecktem Dachreiter gründlich saniert worden. Ein Schild an der Pforte gibt Auskunft, wer von den Nachbarn die Kirche aufschließt. Neugier lohnt sich. Durch den Mittelgang zwischen den Kirchenbänken geht man auf ein hell gefasstes Altarretabel zu. Das stammt zwar von 1927 und ist nur ein Nachbau seines über 400 Jahre alten Vorgängers. Doch die figurenreiche Kreuzigungsszene in der Mitte, das Abendmahl unten, Geburt und Taufe Jesu links und rechts sind noch die Originalgemälde, die Andreas Göding (1570-1627) zugeschrieben werden. An der Kanzel auf der rechten Seite sind die Bildnisse Evangelisten Johannes, Markus, Matthäus und des Apostels Petrus zu erkennen. Die stammen aus der Renaissancezeit. Zum Vorschein gekommen sind sie bei der umfassenden Kirchenrestaurierung 2012. Damals hat Ekkehart Groß (Waditz/Kubschütz) auch die Eule-Orgel von 1927 wieder auf Vordermann gebracht. Die Kirchturmuhr wartet und pflegt seit 2000 Gunter Leuschke aus dem Ort ehrenamtlich. Pfarrer: „Die Liebethaler verwalten sich selber“: Wer um die Kirche herum geht, stößt an deren Südseite zum Friedhof hin auf einen modernen Anbau. Selbst wenn der geschlossen ist, kann man durch dessen Glasfassade die kleine Ausstellung mit Ansichten des Ortes und der Kirche betrachten. Der Liebethaler Wolfgang Grahl hat sie in den 1960ern gemalt. Er ist einer der letzten Zinngießer im Osten Deutschlands. Zum Johannisfest am 24. Juni kommen Bilder der Pirnaer Malerin Brigitta Arnold an diese Stelle. 2018, als der Anbau errichtet wurde, hatte Burkhard Nitzsche nur wenig zu tun. Ganze drei Mal habe er auf die Baustelle gemusst, berichtet der 60-jährige Theologe, der 2013 als Gemeindepfarrer aus Zehren bei Meißen nach Graupa kam. Seit 1999 sind die beiden Kirchorte eine Gemeinde. „Die Liebethaler verwalten sich selber“, sagt er. Das tun die etwa zehn besonders Aktiven unter den insgesamt 63 Gemeindegliedern in einem „Arbeitskreis offene Kirche Liebethal“. Armin Groß zum Beispiel. Der verdient sein Geld als Bauingenieur, am liebsten aber improvisiert er auf der Geige, spielt Schlagzeug oder singt. Er regte den „Liebethaler GrundTon“ an, ein dreitägiges Festival für Jazz und Weltmusik im Oktober. Jazzerin Pascal von Wroblewski und Liedermacher Stephan Krawczyk haben hier schon gesungen und der Dichter Christian Lehnert gelesen. Das Besondere daran: Gebet und Segen gehören dazu, Abschluss ist ein Gottesdienst mit Jazz, wie Matthias Piel sagt, der zum Kreis der Aktiven gehört. Der 59-Jährige, aufgewachsen in einer Baptistengemeinde in Forst in der Lausitz, ist 1988 hierher gezogen. Im Revolutionsherbst 1989 gründete er in Pirna eine Arbeitsgruppe des „Neuen Forum“. Kirche lebt von denen, die sich engagieren.“: Eintritt bei den Konzerten müsse keiner zahlen, sagt er. „Wir wollen, dass jeder, der möchte, die Konzerte erleben kann. Auch wenn er wenig Geld verdient.“ Stattdessen bitten sie am Ende um eine Spende in die Kollektenbox. Für die Gage, die den Künstlern garantiert ist, habe das noch jedes Mal gereicht. In diesem Jahr würden sie gern den Free-Jazz-Schlagzeuger Günter „Baby“ Sommer einladen. „Aber wegen der Corona-Einschränkungen ist im Moment noch alles offen.“ 2015 haben Matthias Piel und Armin Groß die Reihe „Liebethaler Grundgedanken“ initiiert. Jeden Monat treffen sich zwischen sechs und zehn Leute, um über ihren Glauben zu sprechen. Das passiere sonst viel zu selten. Nebenan, in einem 200 Jahre alten sanierten Gutshof, befindet sich ein Jugendgästehaus. Auch dessen Besucher sorgen für Leben in der Kirche. Seit einigen Jahren, sagt Pfarrer Nitzsche, „ist Liebethal auch eine beliebte Traukirche“. Er ist erstaunt, wie viel eine Handvoll Gemeindemitglieder in Bewegung bringen können. „Es reicht ja nicht, dass eine schön sanierte Kirche in der Landschaft steht.“ Früher habe es dort wie überall den traditionellen Gottesdienstbesuch an Sonn- oder Feiertagen gegeben, sagt Matthias Piel. Nun sei durch neue Akzente eine andere Form kirchlichen Lebens entstanden. „Kirche lebt von denen, die sich engagieren.“ ■ Liebethal: urkundlich erstmals erwähnt in einem 1241 hinzugekommenen Teil der „Oberlausißischen Grenzurkunde“ von 1213/1241. ■ Kirche Liebethal: die Erwähnung in einem Dokument von 1373, Bischof Konrad habe der Mutterkirche in Porschendorf und ihrer Filiale in Liebethal je eine Kanne Messwein zukommen lassen, gilt als frühester Hinweis auf die Kirche. ■ Orte: Zur Kirche gehören die Dörfer Liebethal, Mühlsdorf, Vorderjessen, Hinterjessen, Bonnewitz; 1999 Vereinigung mit der Gemeinde Graupa zu Kirchgemeinde Graupa-Liebethal und Schwesterkirchverhältnis mit Kirchgemeinde Pirna. ■ Gebäude: einschiffige Saalkirche; das Satteldach wird gekrönt von einem achteckigen Dachreiter; ihre äußere Gestalt stammt aus der Zeit der Renaissance Ende des 16. Jahrhunderts; Turmuhr der Firma Fischer (Meißen) von 1902, 1996 restauriert. ■ Inneres: hölzerne Kassettendecke, 1927 neu mit Ornamenten bemalt; in der Südseite drei schmale Fenster mit Rundbögen; über dem Eingang zur Sakristei Patronatsloge von 1927; hölzerne Emporen an Nord- und Westseite; drei große, schmale Fenster in der Nordwand, zwei in der Ostwand, dazu kleines Mittelfenster; Kirchenbänke von 1927; insgesamt 188 Sitzplätze (128 im Kirchenschiff, 60 auf der Empore). ■ Ausstattung: Altarretabel (Aufbau über dem Altartisch) von 1927, Nachahmung des Vorgängers aus der Zeit um 1600; originale Altargemälde von Andreas Göding (1570-1627), Haupttafel zeigt figurenreiche Kreuzigung, in zwei seitlichen ovalen Bildern sind Geburt und Taufe Jesu dargestellt, unten in der Predella das letzte Abendmahl Jesu mit seinen zwölf Jüngern; die Kanzel stammt aus der Renaissancezeit, 1927 wurde sie neu bemalt und mit neuer Treppe versehen, bei der Restaurierung 2011 wurden die Gemälde der Evangelisten Johannes, Markus, Matthäus und des Apostels Petrus freigelegt; Taufstein aus Holz wohl von 1700; Orgel wurde 1927 neu errichtet von Firma Hermann Eule, saniert 2012 von Ekkehart Groß (Waditz/Kubschütz); an der Südwand zwei Jugendstilgemälde „Kreuzabnahme“ und „Beweinung Christi“ (Kliem, 1921); drei Stahlglocken von 1923. ■ Anbau: 14 Meter lang, vier Meter breit; 2018 errichtet nach Plänen des Pirnaer Architekten Tobias Hackbeil für 110 000 Euro; Landeskirche und Gemeinde teilten sich die Kosten; 5000 Euro sammelten sie an Spenden, u.a. mit Benefizkonzerten ■ Jugendgästehaus: nebenan in einem rund 200 Jahre alten, denkmalgeschützten Gutshof mit 106 Betten in 26 Zimmern, dazu Seminar- und Gemeinschaftsräume; Appartements; Ferienwohnung mit zehn bis zwölf Betten; Internetadresse: www.kirche-graupa.de Von Tomas Gärtner

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