Mord in Hanau: Mutter in Leipzig festgenommen

Eine Geschäftsreise nach Leipzig rettet Claudia H. am Freitag noch einige Stunden vor der Gefängniszelle. Eigentlich sollten schon am Morgen in ihrer Wohnung in Hanau die Handschellen klicken. Doch die 59-Jährige ist nicht zu Hause. Am Abend kommt ihr die Polizei doch noch auf die Spur. Als Amtshilfe für die Kollegen in Hessen nehmen Beamte aus Leipzig die Frau in einem Hotel im Stadtteil Gohlis fest. Der Tatvorwurf lautet: Beihilfe zum Mord am eigenen Kind. Am Sonnabend wird Claudia H. um 10 Uhr dem Haftrichter vorgeführt und anschließend ins Gefängnis nach Chemnitz gefahren. Der Tod des damals vier Jahre alten Jan liegt schon 32 Jahre zurück. Seine Mutter ist zu diesem Zeitpunkt eine junge Frau von 27 Jahren, hat gerade ihr Biologiestudium an der TU Darmstadt abgeschlossen und beginnt an ihrer Karriere zu basteln. Stets helfend an ihrer Seite steht die damals 41 Jahre alte Sylvia D. Sie hat selbst zwei leibliche Kinder, drei Adoptiv- und vier Pflegekinder. Bis zum vergangenen Donnerstag musste sie sich wegen Mordes vor Gericht verantworten. Krude Lehre und Struktur einer Sekte: Mit ihrem Mann, einem Pfarrer, hat die ausgebildete Krankenschwester eine Art Sekte gegründet. Sie entwickeln eine krude Lehre aus Christentum, Okkultismus, Personenkult und Diktatur, wie es später Aussteiger beschreiben. Weitere Mitglieder dieser Gemeinschaft überlassen D. dennoch ihre Kinder zur Betreuung und geraten immer mehr in eine Abhängigkeit aus Spiritualität und wirtschaftlichen Verflechtungen. Selbst vor sexuellen Übergriffen bleiben die Frauen der Gemeinschaft nicht verschont. Durch angebliche „Energiezeiten“ habe es quasi einen Stundenplan für Sex gegeben, die die weiblichen Mitglieder befolgten, wie Aussteiger später berichten. In diesem Umfeld wächst der kleine Jan auf. Der Junge sei bei seiner Geburt ein völlig normal entwickeltes Kind gewesen. Mit zwei Jahren sei er teils in die Obhut der Angeklagten gekommen. Bis zu seinem vierten Geburtstag habe er kaum noch zugenommen und sei in der Entwicklung gestört gewesen sei, berichten Zeugen im Prozess gegen die Krankenschwester. Seine Eltern unternehmen nichts. Junge steckt in zugebundenem Sack: Am 17. August 1988 eskaliert die Lage. Der Vierjährige muss da schon längst im Bad auf einer Matratze zwischen Toilette und Waschbecken schlafen. An diesem Tag, so ergeben es die Ermittlungen, soll er von seiner Mutter in einen Sack gesteckt worden sein. Er muss darin ausharren, damit er zur Schlafenszeit nicht „herumtolle“, wie die Mutter später als Zeugin vor Gericht beríchtet. Anschließend geht sie zu einem Wochenmarkt. Sylvia D., die nun die Aufsicht über das Kind hat, hilft ihm nicht, bringt der Prozess zu Tage. Den Jungen bezeichnet sie als „kalten und eingebildeten Schauaffen“, einen „vom Bösen besessenen Sadisten“ und die „Wiedergeburt Hitlers“. Jan ist in dem Sack, der über seinem Kopf verschnürt ist, gefangen. Er schreit, dadurch wird die Luft noch knapper. Er übergibt sich, wird bewusstlos und erstickt schließlich an seinem Erbrochenen. Bei der Rückkehr von Jans Mutter sagt Sylvia D. als eine Art Eingebung zu ihr, sie solle nicht traurig sein, wenn Gott Jan bald hole. In Ihr Tagebuch schreibt Sylvia D. damals: „Ein Kind gehört nicht den Eltern, sondern der Alte bestimmt, wann ein Kind abgeräumt wird.“ Der „Alte“ ist für sie Gott. D. sieht sich als eine Art Sprachrohr Gottes. Mit dem Tod des Kindes will sie offenbar ihre Machtposition stärken. Das ist nach Meinung der Kammer das Motiv für die Tat. Alle diese Details werden im Mordprozess gegen die 73-Jährige herausgearbeitet, der mit dem Urteil lebenslange Haft für die Angeklagte wegen Mordes aus niedrigen Beweggründen durch Unterlassen zu Ende geht. Sie wird noch im Gerichtssaal verhaftet. Fall nach 32 Jahren aufgerollt: Warum dauerte es aber mehr als drei Jahrzehnte, bis der Fall vor Gericht kam? Als herbeigerufene Sanitäter an dem Sommertag im Jahr 1988 ins Haus kommen, gibt es von dem Sack keine Spur mehr. Jans Leichnam liegt in einem Kinderzimmer im ersten Stock. Der Arzt notiert als Todesursache zwar „unnatürlich“. Die Situation wirkt aber wie ein tragischer Unglücksfall. Weitere Ermittlungen werden nicht angestellt. Erst 2014 wenden sich Sektenaussteiger an die Presse. Ein Reporter der „Frankfurter Rundschau“ klemmt sich hinter den Fall und erreicht schließlich neue Ermittlungen, an deren Ende der Mordprozess gegen Sylvia D. steht. Für seine hartnäckige Recherche wird er für den Theodor-Wolff-Preis nominiert. Im Zuge der neuen Ermittlungen wurde auch der Leichnam von Jan exhumiert. Zur Überraschung der Kriminalisten waren in dem inzwischen neu belegten Grab aber nur einige Knochenteile der Wirbelsäule zu finden. Bis heute ist unklar, wo der Schädel oder die Oberschenkel- und Oberarmknochen geblieben sind. Angeklagte vermutet Hetzkampagne: Die Angeklagte und ihre Verteidiger sehen in dem Gerichtsverfahren eine „Hetzkampagne angeblicher Sekten-Aussteiger“. Sie habe dem Jungen nichts getan und ihn lieb gehabt, so die 73-Jährige. Die jetzt in Leipzig verhaftete Claudia H. tritt in dem Prozess mehrfach und ausführlich als Zeugin auf. Über Jan spricht sie distanziert und emotionslos, nennt ihn das Kind und nur selten beim Namen. Über Sylvia D. sagt sie dagegen: „Sie ist wie eine Schwester und gute Freundin für mich.“ Die 59-Jährige arbeitet als Geschäftsführerin eines von D. und ihrem Mann gegründeten Verlages und einer dazugehörigen Videoproduktionsfirma in Hanau. Auf der Homepage des Unternehmens nimmt die Unternehmensleitung in eigener Sache Stellung und verwahrt sich gegen Vorwürfe, dass ihre Mitarbeiter Mitglieder einer Sekte seien. Religiöse Aspekte seien Privatsache der Mitarbeiter. In der kommenden Woche soll Claudia H. mit einem Gefangenentransport von Chemnitz nach Frankfurt/Main verlegt werden. Wann auch sie sich vor Gericht verantworten muss, ist noch völlig offen. Die Verteidiger von Sylvia D. jedenfalls hat Revision angekündigt. Sollte die 73-Jährige in nächster Instanz freigesprochen werden, wäre auch Claudia H. aus dem Schneider. Ohne eine erwiesene Haupttat ist auch keine Beihilfe möglich. Von Matthias Roth