Wohnungslos im Dauerfrost: So leben Menschen weiterhin auf Leipzigs Straßen

Zweistellige Minusgrade vor der Haustür sind ein guter Grund, die Heizung mal richtig aufzudrehen. Wohnungslose können das nicht tun. Viele von Ihnen suchen in der lebensbedrohlichen Situation Schutz in Notunterkünften. Aber nicht alle. Manche lehnen die Hilfen ab, andere fallen durchs Raster, weil sie EU-Ausländer ohne offiziellen Status sind. Manche leben auch versteckt im Keller, weil sie ihre Not nicht offen zeigen wollen. In Dresden kostete dies vergangene Woche bereits ein Menschenleben. Die Leipziger Forscherin Luisa Schneider (Max-Planck-Institut) begleitet diejenigen, die in der Messestadt trotz Dauerfrost noch draußen ausharren. Im LVZ-Interview spricht sie über die prekäre Situation. Sie sind nah dran, jeden Tag mit den Betroffenen auf der Straße: Wie kommen die Wohnungslosen in Leipzig durch den Winter? Es natürlich schwierig, weil es richtig kalt geworden ist. Zwei Dinge wiegen besonders schwer: Zum einen wurden die Unterkünfte hinterm Hauptbahnhof komplett geräumt und die Unterführung davor ebenfalls geschlossen In der Folge haben sich die Betroffenen Einzellösungen gesucht, manche haben sich kleine Lager gebaut oder halten sich aktuell in kleinen Hütten auf. Einige sind auch in die Notunterkünfte gegangen, aber nicht alle. Für die, die draußen leben, war es bisher möglich, mit kleinen Gashöfen zu heizen und zu kochen. Weil jetzt laut Corona-Verordnung in Baumärkten nur noch mit Gewerbeschein eingekauft werden kann, können sie ihre Gasflaschen aber nicht mehr austauschen. Das hat sie vor große Probleme gestellt – gerade in den Tagen, in denen die Minusgrade anfingen. Dank der Hilfsorganisationen gibt es da jetzt aber zum Glück auch Lösungen. Das heißt, es schlafen noch weiterhin einige Menschen draußen? Ja, es schlafen noch Wohnungslose draußen. Nicht so viele wie im Sommer, weil es natürlich eine Überlebensfrage ist. Aber sind doch noch einige. Notunterkünfte werden nicht von allen angenommen: Reichen die Übernachtungshäuser nicht aus? Die Angebote der Stadt reichen im Prinzip aus, so ist es nicht. In der Torgauer Straße gibt es ja auch etwas zu Essen, was durchaus hilft. Alle Betroffenen, die ich dort hingebracht habe, wurden auch aufgenommen. Aber es gibt natürlich die altbekannten Probleme: Manche Wohnungslose lehnen die Unterkünfte generell ab. Andere sind nicht offiziell ans hiesige Hilfesystem angebunden, sie erhalten keine Sozialleistungen und wenden sich deshalb nicht an die Unterkünfte. Es gibt auch Menschen mit schweren psychischen Problemen, die weiterhin draußen schlafen. Und natürlich sind auch Menschen mit Tieren und eben wohnungslose Paare in den nach Geschlechtern getrennten Notunterkünften ein Problem. Lesen Sie auch: Obdachlos in Leipzig: „Wenn es so bleibt, wird es immer neue Zeltstädte geben“ Erreichen die mobilen Hilfsangebote die Betroffenen draußen? Das hilft jenen, die das Angebot annehmen wollen enorm. Der Hilfebus sucht sie dort auf, wo sie sich aufhalten und versorgt sie mit den Dingen, die sie benötigen. Es gibt aber auch Menschen in versteckter Wohnungslosigkeit, die zwar keine eigene Wohnung mehr haben, sich aber aus Scham nicht ans Hilfesystem wenden wollen oder das nicht können. Dazu zähle ich auch Menschen, die aktuell zuhause in sehr bedrängenden und kritischen Situationen sind. Manche wenden sich dann ans Frauenhaus und kommen dort unter. Aber es gibt auch einige, die schlafen deshalb jetzt in Kellern oder in anderen Notlösungen, die bei diesen Temperaturen natürlich sehr gefährlich sind. Betroffene sammeln Lebensmittel und Kleidung für EU-Ausländer: Wohnungslose EU-Ausländer fallen generell aus den Statistiken heraus. In Leipzig leben beispielsweise viele rumänische Staatsbürger in Armut und ohne Anrecht auf Sozialleistungen. Wie geht es denen? Es gibt einige der wohnungslosen EU-Ausländer, die vom Hilfebus mitversorgt werden. Darüber hinaus existiert unter den Betroffenen aber auch eine starke Versorgungsstruktur. Gerade in den Wintermonaten macht sich bemerkbar, dass das einige auf diese Weise noch mitversorgt werden – weil ihnen sonst die Ressourcen sehr schnell ausgehen würden. Da wird sich untereinander gekümmert, wenn jemand nicht registriert ist, keine Hilfe bekommt und sich in extrem prekären Situationen befindet. Die anderen Wohnungslosen sammeln dann Lebensmittel und Getränke, sie organisieren für die EU-Ausländer wärmere Kleidung und Schlafsäcke. Teilweise können sie dann sogar auch in Unterbringungen vermittelt werden. Aber generell haben EU-Ausländer kein Anrecht auf einen Schlafplatz im Übernachtungshaus? Ich wüsste nicht, dass sich das inzwischen geändert hat. Nein. Barrierabbau im Hilfesystem notwendig: Was müsste – abgesehen davon – kurzfristig noch getan werden, damit sich die Situation verbessert? Ich denke ein wichtiger Schritt nach vorn wäre der Barriereabbau bei der Aufnahme ins Hilfesystem – auch wenn nur vorübergehend. Es muss für jeden, egal welchen Status man hat, möglich sein, eine Unterkunft zu bekommen. Das hätte sicher langfristig viele positive Effekte. Bei der punktuellen Versorgung auf der Straße wird sehr viel getan, aber es werden dabei auch immer Menschen durchs Raster fallen. Lesen Sie auch: Leipzigs Sozialamtsleiterin: „Wir brauchen mehr bezahlbaren Wohnraum“ Welche Rolle können die aktuell ungenutzten Hotels dabei spielen? Eine sehr große – auch positive Veränderungen in anderen Bereichen. Das trifft vor allem auf Menschen mit bisher schlechten Erfahrungen zu, die es eigentlich gar nicht mehr versuchen oder die denken: Mein Potential, wieder zu scheitern, ist zu hoch. In Großbritannien wurde das Öffnen von Hotels ja bereits während des ersten Lockdown praktiziert, 90 Prozent aller Obdachlosen konnten so laut Regierungsstatistik untergebracht werden. In kleinerem Rahmen gab es das auch in Deutschland, zum Beispiel in Hamburg. Durchweg wurde danach eine sehr positiver Bilanz bescheinigt: Das Vertrauen in Institutionen konnte enorm gesteigert werden, es gab auf einmal eine Anbindung ans Pflegesystem, verschleppte Erkrankungen und Suchtprobleme konnten behandelt werden. Viele Menschen hatten das erste Mal wieder eine Chance sich in Ruhe zu erholen, sind gestärkt worden und haben sogar wieder Berufs- und Wohnungsaussichten. Alle können nach so einer kurzen Zeit den Sprung in Wohnung und Beruf jedoch nicht schaffen. Langfristig muss ein generelles Umdenken erfolgen, sonst findet sich der Großteil auf der Straße wieder und das aufgebaute Vertrauen wird endgültig zerstört. Von Matthias Puppe