Was das Abitur in Sachsen so schwierig macht

Sachsens Abiturienten können sich mit ihren Leistungen sehen lassen. Die im Freistaat erlangte Hochschulreife genießt deutschlandweit einen exzellenten Ruf. Erst kürzlich hatte der ehemalige Bildungsminister von Mecklenburg-Vorpommern Matthias Brodkorb gehuldigt: „Sachsen kann durchaus stolz auf seine Schulen sein. Gemeinsam mit Bayern liegen seine Gymnasiasten mit ihren Leistungen in Deutschland ganz weit vorn. Danach kommt lange nichts.“ Doch was genau macht das sächsische Abitur so anspruchsvoll? Dazu ein paar Gründe aus ganz unterschiedlichen Perspektiven. Gymnasiasten loben komplexes Kurssystem: Schülerinnen wie Joanna Kesicka vom Geschwister-Scholl-Gymnasium in Löbau (Landkreis Görlitz) fühlen sich trotz anhaltenden Lehrermangels im Freistaat gut aufs Abitur und Studium vorbereitet: „Sächsische Schülerinnen und Schüler machen aus der Not eine Tugend und erarbeiten sich vieles im Selbststudium“, sagt die 18-jährige Landesschülerratsvorsitzende aus eigener Erfahrung. Dadurch würden schon etliche Ausfallstunden wettgemacht. Hinzu komme „ein sehr komplexes Kurswahlsystem in der Abiturstufe, das viel Flexibilität bietet, die persönlichen Stärken jedes Einzelnen auszuleben und eventuelle Schwächen auszubügeln“. Im Unterschied zu einigen anderen Bundesländern seien Leistungskurse in Mathe und Deutsch Pflicht, wobei es bis zum Abitur keine Abstriche gebe. „Das ist schon mal eine gute Basis fürs Studium und Berufsleben“, so Kesickas Eindruck. Lehrer betonen naturwissenschaftlichen Anspruch: Selbst Sachsens Lehrer sind überzeugt, dass Schülerinnen und Schülern im Freistaat relativ viel abverlangt wird. „Das sächsische Abitur ist sehr anspruchsvoll“, betont Jens Weichelt. Der Landesvorsitzende des Lehrerverbandes verweist vor allem auf „die gute Tradition, dass im Freistaat seit Jahrzehnten Naturwissenschaften in Leistungskursen und Prüfungen Pflicht sind“. Auch Kenntnisse in Deutsch, Mathe und einer Fremdsprache würden geprüft. Hürden, die auf dem Weg zur Hochschulreife keineswegs in allen Bundesländern zu nehmen sind. Hinzu kommt, dass die Fragen der schriftlichen Abi-Prüfungen sachsenweit einheitlich ausfallen. „Nicht der Lehrer denkt sich die Aufgaben aus, sondern das Kultusministerium“, erklärt Verbandschef Weichelt. So sei sichergestellt, dass bei der Wissensvermittlung im Unterricht keine Stoffgebiete ausgelassen werden können, etwa wegen geringer Nachfrage nach Matritzen oder Redoxreaktionen. „Ich bin froh, dass wir in Sachsen ein hohes Niveau in den MINT-Fächern haben und auch halten können“, lobt Weichelt, der selbst Gemeinschaftskunde und Wirtschaftsrecht unterrichtet. Auf den Einwand, dass der hohe sächsische Anspruch ans Abi von Schülern als Nachteil empfunden werden könnte, entgegnet der Pädagoge: „Beim Abitur geht es nicht nur darum, dass ich die gewünschte Studienzulassung bekomme. Viel wichtiger ist doch, dass das Studium dann auch gemeistert wird. Von diesem Ziel sollten wir nicht abkommen.“ Die Alternative wären hohe Abbrecherzahlen, warnt Weichelt, da Professoren an den Unis auch künftig höchste Anforderungen stellten. Kultusministerium sieht „vergleichsweise hohe Studierfähigkeit“: Der hohe Anspruch des sächsischen Abiturs liegt aus Sicht des Kultusministeriums vor allem „an anspruchsvollen und konkreten Lehrplänen, die wir in allen Schuljahren umsetzen“, erklärt die amtierende Sprecherin Susann Meerheim. Das führe zu einem hohen Leistungsniveau der Schüler, was sich in Ländervergleichen zeige. „So kam es im Abitur 2019 bei teilweise identischen Aufgaben im Mathematikabitur in einigen Ländern zu großen Problemen, während die sächsischen Schüler die Aufgaben insgesamt sehr gut bewältigen konnten“, nennt sie als Beispiel. „Unsere Abiturienten haben die hohen Anforderungen bundesweit aufgrund der soliden Ausbildung mit am besten bewältigt.“ Sachsen, Thüringen und Bayern hätten die besten Abitur-Durchschnittsnoten innerhalb der Bundesrepublik erreicht. „Deshalb sind unsere Abiturienten bei der Vergabe von Studienplätzen im bundesweiten Vergleich gerade nicht benachteiligt“, betont die Ministeriumssprecherin in Anspielung auf Brodkorbs eben erschienenes Buch „Der Abiturbetrug“ (Zur Kampen Verlag). „Im Gegenteil: Sie haben aufgrund ihrer schulischen Ausbildung ein vergleichsweise hohes Maß an Studierfähigkeit erworben, welches für die Bewältigung der Anforderungen eines Hochschulstudiums von unschätzbarem Wert ist. Forscher: „Sinn von Prüfungstexten bleibt oft verborgen“: In den zurückliegenden zwei Jahrzehnten hat Hans-Peter Klein „eine allgemeine Abnahme fachlicher Qualität in den Prüfungsanforderungen der landesweiten Zentralabiture“ beobachtet, die mit der Einführung eigener Prüfungsstandards in den Bundesländern einherging. Der Professor für Didaktik der Biowissenschaften an der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität Frankfurt kritisiert, dass Abituraufgaben in nahezu allen Fächern immer textlastiger werden. „In den 90er-Jahren, als ich selbst noch als Gymnasiallehrer unterrichtete, standen die Aufgaben fürs Mathe-Abi auf zwei Seiten – heute sind es bis zu sieben Seiten auch in anderen Fächern. Selbst wer fachlich fit ist, muss sich erst mal durch den ganzen Text kämpfen, dessen Sinn selbst hochrangigen Mathematikprofessoren verborgen bleibt.“ Der Bildungsforscher hat über Jahre hinweg die Anforderungen für das schriftliche Zentralabitur in den Bundesländern unter die Lupe genommen. Versuchsweise legte er Schülern einer neunten Klasse in Nordrhein-Westfalen die Abituraufgaben eines Leistungskurses im Fach Biologie vor. Das Ergebnis: „Fast alle konnten die erfolgreich lösen. Weil etliche Lösungen im Aufgabentext enthalten waren“, sagt Klein, der Mitbegründer und langjähriger Geschäftsführer der Gesellschaft für Bildung und Wissen war. Kein Einzelfall: Besonders in Hamburg, Bremen, und Berlin seien selbst naturwissenschaftliche Prüfungen mehr auf Lesekompetenz ausgerichtet statt auf Fachwissen und selbstständiges Denken. „Akademisierungswahn führt ins Nichts“: „Die Bildungsexpansion mit immer höheren Abiturientenquoten bedroht längst auch das Niveau der Hochschulausbildung“, warnt der 68-jährige Wissenschaftler. „Mit Brückenkursen müssen die Hochschulen nicht mehr nur in Mathematik Mittelstufenstoff anbieten, damit die Durchfall- und Abbrecherquoten nicht noch höher ausfallen.“ In seinem neuen Buch „Abitur und Bachelor für alle – wie ein Land seine Zukunft verspielt“ warnt er insbesondere auch vor dem Akademisierungswahn mit derzeit bereits über 20.000 spezialisierten Studiengängen „made in Entenhausen“, die ins Nichts führten und Ursache des Fachkräfte- und Handwerkermangels seien. Von welchem Kaliber die Aufgaben für sächsische Gymnasiasten sind, könne er hingegen nicht beurteilen. Das Kultusministerium habe seinem Wunsch, die Abituraufgaben kostenlos für seine Forschungen übermittelt zu bekommen, leider nicht entsprochen. Ungeachtet dessen sei der Trend, immer mehr Schüler ans Gymnasium zu lassen, auch in Sachsen ablesbar. „Dabei ist es keineswegs so, dass Schüler immer schlauer werden“, betont Klein. „In Wahrheit werden die Anforderungen zunehmend abgesenkt. Unsere ausgewählten Analysen des fachlichen Schwierigkeitsgrads der Aufgabenstellungen zeigen zumindest im Fach Biologie und Mathematik eine eigentlich nicht überraschende Tendenz auf: je fachlich anspruchsloser die Aufgabenstellungen, desto höher die Abiturientenquoten in den Bundesländern.“ „Schüler mit Digitalisierung nicht allein lassen“: Dass womöglich die Digitalisierung am beschleunigten Erkenntnisgewinn schuld ist, lässt der Frankfurter Forscher so nicht gelten und warnt vor übertriebenen Erwartungen – auch in Mitteldeutschland. „Es gibt bis heute keine einzige Studie, die nachweist, dass digitales Lernen irgendeinen Vorteil gegenüber der analogen Form der Wissensvermittlung bietet.“ Ganz im Gegenteil. „Digital aufgerüstete Schulen in Holland und in Australien sind reihenweise gescheitert, nachdem die schulischen Leistungen dramatisch absackten. Digitale Endgeräte wurden wieder eingesammelt, da sie für das verstehende Lernen eher kontraproduktiv sind“, so Klein. Statt sich tatsächlich Wissen anzueignen, hätten Schülerinnen und Schüler sich von allen möglichen Offerten im weltweiten Netz ablenken lassen. „Dort, wo digitale Technik einen Mehrwert bietet, sollte sie auch eingesetzt werden“, räumt Klein ein. „Wenn aber die Schüler allein gelassen ihre Informationen aus den meist mehr als fragwürdigen Quellen des Internets beziehen, können Smartphone, Laptop und Co. eher schaden als nützen. Für den Lernerfolg und erst recht für die Persönlichkeitsbildung ist immer noch der Lehrer entscheidend.“ Von Winfried Mahr

Umfrage unter Bildungsexperten - Was das Abitur in Sachsen so schwierig macht