Ex-OBM von Leipzig Wolfgang Tiefensee im Interview: "Thüringen steht mittlerweile exzellent da"

Wolfgang Tiefensee (65, SPD) war Leipziger Oberbürgermeister, Bundesverkehrsminister und ist derzeit Wirtschaftsminister in Thüringen. In knapp einem Jahr soll aber Schluss sein. Im zweiten Teil des Interviews blickt er zurück auf Berlin und Erfurt. Lesen Sie hier Teil eins des Interviews mit Wolfgang Tiefensee Dann waren Sie Bundesverkehrsminister in Berlin? Auch das eine sehr spannende und erfüllende Zeit. Ich habe eine Menge wichtiger Verkehrsprojekte stemmen können, auch im Osten. Viele wissen nicht, dass erst 2006 die Entscheidung gefallen ist, die ICE-Strecke Erfurt – München wiederzubeleben, die 1999 auf Eis gelegt worden war. Kleine Geschichte am Rande: Bernhard Vogel ließ damals fleißig weiter Brückenpfeiler setzen, um das Planungsrecht nicht zu verlieren. Clever, der Mann. Wie groß waren die Widerstände? Meine Beamten haben mir vorgerechnet, dass diese Strecke völliger Quatsch sei, zu teuer in Relation zu anderen, viel wichtigeren Projekten. Die Strecke Erfurt – München sollte sterben. „Weltverkehrsforum war ein Wanderzirkus“: Was zum Glück nicht geschehen ist. Nein. Ein Minister kann auch gegen sein Haus entscheiden. Wir haben in dieser Zeit das Weltverkehrsforum nach Leipzig geholt. Keine Selbstverständlichkeit, denn es gab unzählige konkurrierende Städte. Zuvor war das Forum ein Wanderzirkus, zog international von Stadt zu Stadt. Ich habe die Kollegen überzeugen können, das Forum fest in Leipzig zu etablieren. Und später verhindert, dass es nach München geht, wie das mein Nachfolger Peter Ramsauer wollte. Und als Aufbau-Ost-Beauftragter? Da denke ich nicht nur an Verkehrsprojekte wie die ICE-Strecke, die A 14 oder an die Wasserstraße durch Brandenburg mit Schiffshebewerk. Millionen flossen in Welterbe-Städte, den Stadtumbau Ost, aber auch in ein Projekt für Vereine mit Demokratieprojekten. „Gute Kompromisse ja, faule nein“: Dann war da aber die missglückte Bahn-Privatisierung? Ein Paradebeispiel für schlechte Kompromisse im Koalitionsvertrag 2005. Die SPD wollte sie nicht, CDU und Gerhard Schröder bestanden darauf. Bis zur letzten Sekunde stand im Vertragsentwurf: Es sei zu prüfen, ob und wie die Privatisierung des rollenenden Materials zu realisieren sei. Ob und wie. Aber es war eine Bedingung von Gerhard Schröder, das ‚ob’ zu streichen, wohl wissend, dass die Mehrheit in der SPD dezidiert anderer Meinung war. Sie hat dem Koalitionsvertrag dann dennoch zähneknirschend zugestimmt: Take it or leave it. Punktsieg für die CDU, für Gerhard Schröder, Finanzminister Peer Steinbrück und Bahnchef Hartmut Mehdorn. Wir wissen jetzt, die Rechnung ging nicht auf. Da kann man nur verlieren? Genau. Ich habe sehr viel Kraft eingesetzt, eine für die SPD tragbare Lösung zu finden. Letztlich ist es 2007 in Hamburg auf dem SPD-Parteitag zum Show-down gekommen. Nachdem Innenminister Schäuble die juristische Prüfung meiner Privatisierung light immer weiter hinausgezögert hatte, hieß es: Der Parteitag steht unmittelbar bevor, wir entscheiden dort neu und stellen den Koalitionsvertrag in Frage. Die SPD sagte Nein zur Privatisierung und zeitgleich stellte sich heraus, dass der erzielbare Erlös jenseits dessen war, was der Finanzminister erwartete. Das Projekt war beerdigt, die SPD mit sich im Reinen und ich erleichtert. Fazit: Gute Kompromisse ja, faule nein. „Ich habe meine Sachen aus dem Büro geräumt und bin gegangen“: War Mehdorn auch verantwortlich dafür, dass die „Bild“-Zeitung schrieb, ihre Mitarbeiter würden Sie heimlich „Pfütze“ nennen? Vielleicht war er es. Ich denke, das war eine Erfindung der „Bild“. Heute würde man von Mobbing sprechen? Eher von Stimmungsmache. Die hab ich in 30 Jahren nicht nur einmal erleben müssen. Am Tag, nachdem Mehdorn seinen Hut nehmen musste, hat sich die „Bild“ auf seine Seite geschlagen und versucht, den Verkehrsminister in die schmutzige Ecke zu stellen. Geschenkt. Und dann kam Thüringen? Ja, 2014 bis heute. Ausgenommen den kurzen Monat ab dem 5. Februar 2020 nach der MP-Wahl von Thomas Kemmerich mit Hilfe der AfD und CDU. Ich habe meine Sachen aus dem Büro geräumt und bin gegangen. „Ja, ich war fassungslos.“: Ich saß damals fünf Meter Luftlinie entfernt im Landtag und sah, wie Sie versteinerten. Versteinerten? Ja, ich war fassungslos. Es gab wenige, die es vorhergesehen hatten, ich gehörte dazu. Und der Verzicht aufs Amt hat Ihnen nichts ausgemacht? Doch. Mir sind die Tränen in den Augen meiner Mitarbeiter nahe gegangen. Auch wenn Sie mir das vielleicht nicht glauben: Es ging weniger um mich, sondern um diesen politischen Dammbruch und den Scherbenhaufen, der entstanden war. Sie sagten, Sie hätten es geahnt? Nicht geahnt, vorhergesehen. Ich wollte Herrn Kemmerich am Wochenende zuvor treffen, um von ihm eine klare Absage zu dieser möglichen Konstellation zu hören - zu einem Gespräch habe er keine Zeit. Ich habe dann versucht, ihn am Montag zuvor anzurufen. Darauf reagierte er nicht. Ich wollte ihn genau das fragen: Paktieren Sie mit der AfD? Dann las ich am Abend vor der Wahl sein Interview, in dem er den SPD-Ministern anbot, in der Regierung zu bleiben, wenn er Ministerpräsident würde. Büste mit „Kemmerich, der Standhafte gegen die AfD“: Und am entscheidenden Mittwoch? Habe ich um 7 Uhr auf Twitter gefragt: „Ist es wahr, Herr Kemmerich, dass Sie sich mit den Stimmen der AfD zum Ministerpräsidenten wählen lassen wollen?“ Er hat darauf nicht geantwortet. Da war klar, was kommt? Es war wahrscheinlich. Kein Unfall, sondern Kalkül. Entlarvend war die Antwort von Kemmerich auf die Frage: Nehmen Sie die Wahl an? Hätte er nein gesagt, es gäbe eine Kemmerich-Straße, eine große Büste würde in Berlin stehen: „Kemmerich, der Standhafte gegen die AfD“. (Lacht). Wer hat Sie eigentlich nach Thüringen geholt? Mich hat der Bundestagsabgeordnete Carsten Schneider angesprochen, ich habe mich mit Weggefährten und mit dem Erfurter Oberbürgermeister und dem Landesvorsitzenden, Andreas Bausewein, besprochen und zugesagt. „Ramelow hat Zusage eingelöst“: Wie schwer fiel es Ihnen, als einstigem Bürgerrechtler mit einem Linken-Ministerpräsidenten Bodo Ramelow zu arbeiten? Ich habe gründlich überlegt: Bietet der Koalitionsvertrag ein vernünftiges Fundament oder verkauft sich die SPD? Ich fand fast ausnahmslos sehr vernünftige Projekte und nicht zuletzt klare Aussagen zum DDR-Unrecht, die für mich akzeptabel waren. Und Ramelow? Mein Bruder Eberhard, der Professor an der Katholisch-Theologischen Fakultät Erfurt war, hatte mir von einem streitigen, aber interessanten Austausch mit ihm über die Christen in der DDR erzählt. Das klang vielversprechend. Der Ministerpräsident hat seine Zusage eingelöst, auf Augenhöhe mit den Partnern zu regieren. Gäbe es die SPD in Landtag und Regierung nicht, wäre vieles nicht geworden. Thüringen steht mittlerweile exzellent da, auch wegen einer klugen Politik der SPD. Kurzum, ich habe die Entscheidung nie bereut. Was gibts Schöneres, als mit Erfahrung, Kraft und einer guten Mannschaft in Fraktion und Ministerium etwas Gutes zu bewirken? Mit der SPD ist es nach jeder Landtagswahl in Thüringen oder auch Sachsen ein Stück weiter bergab gegangen. Wie sehen Sie denn die Lage Ihrer Partei im Osten? Liegt es an dem Gezänk in Berlin? Die SPD stellt drei der sechs Ministerpräsidenten im Osten, wir sind stark. Ganz klar, in Thüringen nicht, 2019 ein bitteres Ergebnis. Aber vergleichen Sie die Wahlen in Sachsen, Brandenburg und Thüringen: Überall ein Wettbewerb des Landesvaters mit der AfD. In Thüringen kam für die SPD erschwerend hinzu, dass es durch einen vergleichsweise starken Dritten, die CDU, ein Dreikampf wurde. Da hatten es die Parteien in der „zweiten Etage“ unterhalb der 20 Prozent schwer. Und dass die SPD im Bund keinen starken Rückenwind geben konnte – Selbstbeschäftigung mit Personalfragen – ist unbestritten. Ich bin stolz, dass mein Erststimmenergebnis in Gera fast doppelt so hoch war, wie das der Zweitstimme. Ich bin zuversichtlich, dass wir im April 2021 zulegen, wenn wir persönlich überzeugen und mit den Menschen direkt reden. „Es ist immer Teamwork“: Was war Ihr größter Erfolg als Thüringer Wirtschaftsminister? Mein Erfolg, das gibts nicht. Es ist immer Teamwork. So wie in Leipzig. Vielleicht die Stärkung der Industrie? Wir haben Nordrhein-Westfalen, Niedersachsen, Hessen bei der Anzahl der Industriearbeitsplätze überholt. Die Gründerszene? Wir sind Spitze, was die innovativen Gründungen angeht. Digitalisierung? Die Kompetenzzentren für Industrie und Handwerk sind top. Der Tourismus? Wir verzeichnen steigende Gästezahlen. Ich bin auch Wissenschaftsminister. Das Exzellenzcluster in der Uni Jena, vier Prozent mehr Geld für die Hochschulen jedes Jahr? Vieles ist gut vorangekommen. Aber ich sehe die dunklen Wolken. Was wird mit den Automobilzulieferern, was mit den Hotels und Gaststätten, den kulturellen Einrichtungen nach Corona? Licht und Schatten. Erfolg und Herausforderung. Dann gab es die große Ansiedlung eines Batterieherstellers bei Arnstadt. Wir konnten den chinesischen Battteriehersteller CATL überzeugen, nach Thüringen zu kommen. Das war ein hartes Stück Arbeit und hat mich an meine Investoren-Aquise bei BMW und DHL erinnert. Die gleiche Liga? Dass die Chinesen Thüringen gewählt haben, ist ein starkes Signal. Zumal wir eine neue Art der Kooperation vereinbart haben: Technologietransfer von China nach Deutschland, gemeinsame Projekte im gerade eröffneten Batterieforschungszentrum am Erfurter Kreuz. „Ein gutes Buch oder eine Radtour“: Was kommt als Nächstes? Amazon baut in Gera-Cretzschwitz. Wie in alten Zeiten? Logistik ist eine Zukunftsbranche. Auch die Ansiedlung von DHL war ein Kraftakt und ein Mega-Erfolg. Drei Hubs in der Welt und einer davon in Leipzig! Vor kurzem ist leider der langjährige Lufthansa-Chef Heinz Ruhnau gestorben, der an meiner Seite DHL nach Leipzig geholt hat. Ein ganz wichtiger Mann für Leipzig und den Ausbau des Flughafens. Wir sollten eine Straße nach ihm benennen. Sie haben ein neues Glück gefunden mit der Geschäftsführerin der Kulturfabrik Apolda? Sie sagen es. Haben Sie denn noch Zeit für Privates? Ja, für Kinder, Enkel, Freunde, ein gutes Buch oder auch mal eine Radtour, eine Stipvisite auf der Leuchtenburg, ein Glas im Weingut Zahn muss immer Zeit sein. Oder für ein Konzert in Erfurt oder den Theaterbesuch in Altenburg oder Gera. Von Roland Herold