Wie das Mittelsächsische Theater über die erneute Schließung zu kommen versucht

Am 6. November stand im Mittelsächsischen Theater Freiberg ursprünglich eine Premiere auf dem Spielplan. „Lauter Verrückte“ ist ein heiterer Einakter des von Bayern nach Italien ausgewanderten Opern-Altmeisters Simon Mayr über eine ambitioniert musikalische Familie, passend zu einer als entspannt erhofften Adventszeit. Doch fünf Tage zuvor war der Haupteingang des Theaters in Freiberg erneut geschlossen worden. Immerhin blieb der Personaleingang an der Borngasse geöffnet – ein Fortschritt gegenüber der totalen Auszeit im Frühjahr. Man blieb zumindest im Probenrhythmus, Regisseurin und Musiktheater-Oberspielleiterin Judica Semler setzte für diesen Tag eine Generalprobe an, als wollte man am nächsten Tag auf ein heißes Publikum losgehen. In einem salonartig umgestalteten Theatersaal übrigens, in dem statt der Parkettreihen Einzeltische und Stuhlgruppen stehen. „Die Nachricht vom zweiten Lockdown war deprimierend“: Im Stück fällt der Satz „Einen wahren Künstler schreckt nichts“. Auf den ersten Blick trifft das auch zu. Der Einsatz ist hoch, die Einsätze klappen, die Generalprobe läuft professionell und glatt durch. „Ich habe trotzdem alles ernst genommen und alles gegeben“, erklärt Sänger Frank Unger im Anschluss. Im Miniorchester von sechs Musikern und Musikerinnen wurde schon vor der Probe viel gelacht und von der Dezemberhoffnung gesprochen. Alle empfinden es als ein Privileg, an einem öffentlich getragenen Haus zu arbeiten und also zumindest auf Kurzarbeitsniveau gesichert zu sein. Im Gespräch sickert dann aber doch eine tendenziell gereizte Stimmung durch, von der auch Musiktheaterchefin Semler spricht. „Die Nachricht vom zweiten Lockdown war deprimierend“, konstatiert sie. Mit der fortgesetzten Probenarbeit bekräftige man sich gegenseitig, auch den Sinn künstlerischer Tätigkeit ohne Publikum betreffend. „Wir wollen uns fit halten und nicht vorauseilend resignieren“, sagt Judica Semler. Auf den erhofften Weiterbetrieb im Dezember angesprochen, reagieren alle zurückhaltend bis skeptisch. Dass dieses „fit halten“ in einem Kunstbetrieb nicht auf Knopfdruck funktioniert, schildert andererseits Schauspieldirektorin Annett Wöhlert. Am 4. Dezember sollte eigentlich eine nachdenkliche Reihe fortgesetzt werden, die am 2. Oktober mit einem „Träume“-Projekt nach Dostojewski begann. Die Theaterleitung verfolgt in dieser Spielzeit die Absicht, die durch eine kollektive Krise aufgeworfenen existenziellen Fragen und Zweifel mit dem Publikum neu zu erörtern. Als „faust. vom eise befreit. ein spiel“ stand der Dezemberabend im Programm. Durchaus wörtlich gemeint im Sinn einer angenommenen Befreiung vom vereisenden Virus mit einer „Lebenslust, die mit Normen spielt“, wie es im Untertitel heißt. Dramatische Spannung lässt sich nicht auf Vorrat aufbauen: Doch diese Premiere wird es vorerst nicht geben. Einmal, weil sie in Kurzarbeitsfrequenz nicht zu schaffen ist. Vor allem aber, weil die Ungewissheit zu groß ist, weil sich ein solches Projekt „nicht dauerhaft beatmen lässt“, wie Annett Wöhlert sagt. Dramatische Spannung lässt sich eben nicht auf Vorrat aufbauen und beliebig halten. Noch mehr treiben die Schauspielchefin und Intendant Ralf-Peter Schulze die Einstufungen des Theaters um, wie sie in den Schließungsbeschlüssen des Bundeskabinetts vom 28. Oktober deutlich wurden. „Wie konnten wir hinter dem Spaßbad eingeordnet werden?“, fragt durchaus selbstkritisch Annett Wöhlert. Klar ist, dass die finanzierende Politik auch die Bühnen nach dem überall dominierenden Spaßfaktor bewertet, von wenigen verständigen Kulturpolitikern abgesehen. Bundeskulturministerin Monika Grütters (CDU) hatte ihren Kollegen immerhin zuvor geschrieben und sie gemahnt. Haben die Theater aus Angst vor schwindender Finanzierung selbst versucht, vor allem ihren Unterhaltungswert zu erhöhen? „Wir sind jetzt plötzlich aufgefordert, wieder unsere gesellschaftliche Relevanz zu verdeutlichen“, konstatieren die Freiberger einigermaßen betroffen. „Wir wollen gebraucht werden und zugleich unsere Zuschauer suchen“, sagt Intendant Schulze. Das schließt gesellschaftliche Debatten ein, wie sie mit der „Dialog“-Reihe des Theaters versucht wurden. Dass man Zuschauer auch damit herausfordern kann und nicht nur mit einem „Unterhaltungskombinat“ um sie buhlen muss, zeigte der große und inzwischen leider wieder ausgebremste Besucherzuspruch zum Spielzeitauftakt. Dennoch murrt am Mittelsächsischen Theater niemand laut, dass die drastischen Schutzmaßnahmen nun die Falschen träfen, die sich bislang bereits redliche Mühe gegeben haben. Ralf-Peter Schulze schildert, wie er derzeit die Brücke zu den Theaterfreunden aufrecht erhält. Die Spielzeithefte wurden alle umgeschrieben, „Briefe an das Publikum“ sollen den Kontakt pflegen, eine Art „Theateraktie“, wie der Intendant sagt, ein Gutschein auf angekündigte und in Arbeit befindliche Vorhaben. Zu den coronabedingten Strategieänderungen gehört, die „Ressourcen Richtung Open Air umzulenken“, also mehr auf die kommende warme Jahreszeit zu setzen. Was nicht bedeutet, dass der von Hänsel und Gretel bis Swinging Christmas reichende Adventsspielplan schon abgeschrieben wäre. Ralf-Peter Schulze gibt die empathische und solidarische Mottofrage aus: „Wie kann eine Gesellschaft unter dauerhaften Einschränkungen mit Kultur leben, ohne zu verzweifeln?“ Von Michael Bartsch