So war die Harald Martenstein-Lesung in Dresden-Loschwitz

Man liegt nackt am See, im Stadtpark oder am Meeresstrand, es gibt Nacktwanderwege, Nacktcamping-Plätze, an der Ostsee alljährlich auch einen Nudistenlauf. Man könnte sagen, das Nacktsein gehört zur deutschen Leitkultur, spätestens seitdem die Nazis 1942 das auch der Weimarer Replik stammende Nacktbadeverbot lockerten. Entsprechend hat sich auch der vielfach preisgekrönte Zeit- und Tagesspiegel-Kolumnist Harald Martenstein so seine Gedanken gemacht, zumal er selbst mal in Montenegro böse Blicke, nein Blicke voller Abscheu, Ekel und Verachtung von Montenegrinern, Serben, Albanern und Kosovaren erntete, als er in eine Hotelsauna ging – und als einziger keine Badehose trug. „Offenbar ist jeder hundertste Deutsche verrückt“: Es war nicht die einzige Kolumne, mit der Martenstein bei seiner Lesung am Montag im Kulturhaus Loschwitz großes Gelächter erntete, etwa als er aus seinem Buch „Nettsein ist auch keine Lösung“ Betrachtungen zur Endung -ling anstellt, die angeblich Worte herabwürdigend klingen klasse, weshalb es diverse Institutionen von der Universität bis zum Staatsschauspiel gibt, die stramm bestrebt sind, stattdessen das Wort „Geflüchteter“ in der Sprache zu verankern. Aber gilt das, so Martensteins – rhetorische – Frage, auch für das Wort Zwilling? Ist die politisch korrekte Bezeichnung dann „Gezwillter“? Heißt es künftig statt Säugling „Gesäugter“ oder „Saugender“? „Liebling“ oder „Schmetterling“ zu sagen geht bei konsequenter Auslegung demnächst wohl auch nicht mehr. Auch in anderen Texten bewies Martenstein, weshalb er für die einen eine Art Held und für die anderen ein Feindbild ist. Eines seiner Steckenpferde: Sich intensiv mit Umfragen zu befassen, denn so „bekommt man einen völlig anderen Blick“. So gab es eine Erhebung, von welcher Atommacht sich die Deutschen am meisten bedroht fühlen. Ein Prozent der Bevölkerung sah Frankreich als am meisten gefährlich an. Frankreich!? Ernsthaft? „Offenbar ist jeder hundertste Deutsche verrückt“, meint Martenstein. In dem Band „Jeder lügt so gut er kann“, dessen Titel auf einen alten Udo-Jürgens-Song zurückgeht, geht es aber nicht nur ums Politische, sondern immer wieder auch um das private Scheitern und Alltagsprobleme, als Vater, als Berliner, als Mann oder Deutscher. Die Gesellschaft muss liberal bleiben: Das Politische steckt aber nicht zu knapp durchaus auch im Privaten. So kauft sich Martenstein, obwohl er schwerhörig geworden ist, kein Hörgerät. „In der aufgeheizten politischen Atmosphäre, die wir im Moment haben, ist Schwerhörigkeit ein Vorteil. Fast alle Leute wirken sympathischer, solange man nicht hört, was sie sagen.“ Überhaupt ändert sich so manches im Alter. Er habe früher durchaus viel Fernsehen geschaut, das mache er heute nur noch, „um in Einschlafstimmung zu kommen“, wie er seine Zuhörer wissen ließ. Auf den Hund gekommen ist für ihn auch die Buchkritik. „Die meisten Kritiker prüfen mittlerweile doch eh nur, ob das Buch mit ihrer Weltanschauung übereinstimmt“. In einem Interview, das den Kolumnen vorangestellt ist, lässt Martenstein seinen Leser wissen: „Der Titel gefällt mir. Wir lügen alle, weil wir unsere Erinnerungen und unsere Meinungen zurechtschustern, wie es uns am besten in den Kram passt.“ Zu manchen Tabus steht aber durchaus auch selbst, eine Kolumne zur (von ihm befürworteten) Gleichstellung homosexueller Lebensgemeinschaften wird es von ihm nie geben. Aber das falsche Pathos aller Besserwisser auf die Schippe zu nehmen, das ist absolut sein Ding. Er hofft auf eine Gesellschaft, die nicht aufhört, liberal zu sein – und dass „nicht im Namen der Buntheit ein monochromes Gemälde entsteht“. Harald Martenstein: Jeder lügt so gut er kann. Alternativen für Wahrheitssucher, Penguin Verlag, 208 Seiten, 10 Euro Von Christian Ruf