Hörstück des Soci Dresden: „Die Unantastbaren“

Corona, Mutanten, Lockdown und kein Ende. Vor allem keine Perspektive für die Kultur, die bereits im November ins dunkle Nichts geschickt wurde und die in diesem Jahr wohl wieder der letzte Bereich sein wird, in dem Publikumsverkehr ermöglicht wird. Aber: Kreative sind natürlich kreativ, wie sehr auch immer sie in ihren Möglichkeiten beschnitten werden. Und so entstehen auch in diesen Zeiten immer wieder neue Nischen-Produkte. Wenngleich man der ständigen Digitalformate schon ein wenig müde ist, gibt es doch immer wieder Produktionen, die aufmerken lassen. Ein „Hörstück“, das am Samstag über den YouTube-Kanal des Dresdner Societaetstheaters seine Premiere erlebte, gehört dazu. Projekt mit „Denkzeit“-Stipendium des Freistaates: Eigentlich ist „Die Unantastbaren“ schlicht ein Hörspiel, wegen der Verbindung zum Theater als Stück tituliert, eines, das genaues, unbedingtes Zuhören erfordert, Konzentration und anschließendes Nachdenken. Und das ohne große Werbung im Vorfeld am Premierenabend um 20.15 Uhr bereits 98 Aufrufe erfahren hatte. Autorin Annedore Bauer, die auch bei der Umsetzung des Hörstücks den Hut aufhatte, hat für dieses Projekt eines der „Denkzeit“-Stipendien des Freistaates erhalten. So grundgesichert, entstand ein einstündiges Erinnerungsgerüst an eine Kindheit im Westdeutschland der 70er Jahre, in einer Kleinstadt „nicht weit von Frankreich“, in einer „Anstalt“, wie das damals noch hieß. Nein, die Ich-Erzählerin, die in dem Stück den Ort ihrer Kindheit aufsucht, war keine „Insassin“, sondern ihr Vater leitete als evangelischer Pfarrer diese Institution für geistig und körperlich behinderte Menschen. Und versuchte sich dabei in einem nach wie vor rigiden System in Humanismus, siezte die Patientinnen und Patienten, zitierte Habermas von der Kirchen-Kanzel. „Gott war nicht da“: Widersprüchlich sind die Erinnerungen jener Besucherin, die sich in einem mittlerweile reichlich toten Ort wiederfindet, einem Ort, von dem aus von 1943 bis 1944 Menschen „verschickt“ wurden – die Insassen der Anstalt, von den Nazis als minderwertige Wesen betrachtet. „Gott war nicht da“, kommentiert die Pfarrerstochter, zitiert vielleicht auch ihren Vater. Nicht ihre Großmutter. Die, Jahrgang 1900, hat nie etwas erzählt. Und das, all diese unterdrückten, verschütteten, vergrabenen Erinnerungen hat die Erzählerin „mit Löffeln eingeatmet“. Die Patientinnen und Patienten, sie sind allgegenwärtig in den Gedanken der Besucherin, da gibt es viele, nicht immer schöne, sinnlich nachvollziehbare Erinnerungen. Sie prägen aber auch das, was die Heimkehrerin von anderen gehört hat, was in der Kleinstadt präsent war. Da taucht der Euphemismus „auf Reisen“ für den Abtransport der wehrlosen Menschen auf, immer wieder das Bild der grauen Busse. Aber natürlich gab es auch die andere Welt, das wirkliche Draußen. Da sind die RAF-Plakate mit den zur Fahndung ausgeschriebenen Terroristen, und so wie der Ich-Erzählerin ging es auch der Rezensentin und wohl vielen, vielen Mädchen im Westen jener Jahren: Da war zunächst einmal riesiges Erstaunen, dass auf diesen Plakaten Frauen eine Rolle spielten. Nirgendwo sonst in der Öffentlichkeit waren sie wirklich präsent, aber dort, bei der RAF, sahen wir sie. Contergan, Ahoi-Brause und Milky WAy: Es war auch die Welt von Contergan. Und die von Ahoi-Brause, Nogger und Milky Way. Ob man in jener Region tatsächlich schon in den 70er-Jahren von „Schokokuss“ sprach, erscheint fraglich – und als befremdliche Geschichtsklitterung. Zumal Bauer das Problem einfach hätte lösen können, indem sie das in jener Zeit übliche „Negerkuss“ mit dem Anhang – „so hieß das damals“ hätte versehen können. Auch ansonsten kann man an einigen Begrifflichkeiten teilweise zweifeln. Der Aufbruch der Ich-Erzählerin, ihre Flucht aus der engen Welt der Kindheit hinaus in die Welt ist mit Worten wie „Marketing“, „Performance“ und „Follower“ nicht wirklich gut einfangen. Ansonsten aber ist „Die Unantastbaren“ ein großartiges Stück Lockdown-Kultur geworden, auch technisch einwandfrei umgesetztes Hörtheater! Außer Annedore Bauer sollten noch Thomas Kitsche als Co-Regisseur erwähnt werden sowie Frieder Zimmermann für Musik und Aufnahme. „Die Unantastbaren“ ist an den folgenden beiden Wochenenden samstags und sonntags von 18 – 23 Uhr unter https://www.youtube.com/watch?v=jfQeEq8qGjs&feature=youtu.be abrufbar. Der Abruf ist kostenlos. Von Beate Baum