Dresden: Ein Tagebuch über Heilfasten

Man sieht es mir zwar nicht an, aber ich liebe essen. Deshalb habe ich Heilfasten bisher als masochistischen Akt sinnloser Selbstgeißelung abgetan. Allein bei dem Begriff schießt mir das Bild meiner Klassenkameradin aus der Grundschulzeit in den Kopf, wie sie während des Unterrichts zusammenklappt – weil sie aus religiösen Gründen gefastet hat. Da wollte ich nie hin. Doch Professor Peter Schwarz meint, es lohne sich. Er arbeitet an der Uniklinik Dresden im Bereich Prävention und Versorgung von Diabetes Typ 2. Experimentierfreudig wie ich bin, stürze ich mich nach einem ausführlichem Gespräch mit ihm in das Abenteuer Heilfasten. Mein Ziel: zehn Tage lang ohne Essen, ohne Zucker, ohne Kaffee. Zehn Tage zwischen Klistier und Fasten-High. Zehn Tage zwischen Freud und Leid. Vorbereitung: Planung ist alles: Wasser und Tee in Unmengen. Klingt wie Folter, heißt aber offiziell Heilfasten. Ich nenne es: Ein elementares Grundbedürfnis nicht länger befriedigen. Warum sich Menschen so etwas antun? Peter Schwarz spricht von „Entgiftung“, „seelischer Entrümpelung“ und davon, dass „der Körper den Reset-Knopf drückt“. Er ist Verfechter des Heilfastens und betreut mich während meines Selbstversuchs sowohl medizinisch als auch psychologisch. Eine Woche lang bereite ich mich innerlich auf die Tortur vor. In eine Fastenklinik gehe ich dazu nicht – zu schade um Geld und Urlaubstage, denke ich. Zumal Peter Schwarz, der selbst mindestens einmal im Jahr fastet, dabei auch wie gewohnt arbeitet. Tag drei und vier sind die schlimmsten, warnt er mich. Deshalb gibt es Mittwochabend die letzte Mahlzeit. Damit Tag drei und vier auf das Wochenende fallen, so der Plan. Doch nach Plan verläuft bei meiner Fastenkur nichts. Zwei Tage zuvor hatte ich mich ausschließlich von püriertem Obst und Gemüse ernährt. Und nun leide ich entgegen der Vorhersage bereits einen Tag vor dem eigentlichen Fastenbeginn: pochende Kopfschmerzen, Stimmungsschwankungen, knurrender Magen, grundlose Gereiztheit. Das geht ja gut los. Tag eins: Auf Los geht’s los! Am ersten Fastentag, dem Donnerstag, gesellen sich Schwindel und Konzentrationsstörung zum Unwohlsein. Zudem bringt der Abend die erste große Herausforderung: Glaubersalz zum Abführen trinken. Muss das sein? „Ja“, sagt Peter Schwarz ohne Gnade. „Nur ein leerer Darm kann das Hungergefühl besiegen.“ Also runter mit der Plörre und vorsichtshalber ab ins Bett. In der Ruhe vor dem Sturm schlafe ich um 19.30 Uhr ein – so früh wie seit Kindheitstagen nicht mehr. Zwei Stunden später weckt mich mein grummelnder Bauch. Das Glaubersalz wirkt, wenn auch verzögert. Eine halbe Stunde später ist mein Darm leer und ich falle zurück in den Tiefschlaf. Tag zwei: im Fieberwahn: Freitagmorgen fühle ich mich so zäh wie ein entsorgter Kaugummi. Elf Stunden fieberhaften Schlafes reichen nicht aus. Erholung? Keine Chance. Die Glieder schmerzen, der Schädel dröhnt. Werde ich etwa krank? „Fit siehst du aber nicht aus“, begrüßt mich meine Chefin im Büro. Fit? Dass ich nicht lache. Ich bin lethargisch und wackelig auf den Beinen. Bei jedem Schritt befürchte ich, gleich wie ein schlecht zusammengebauter Schrank auseinanderzufallen. Immerhin: Nach dem Einsatz des Glaubersalzes ist das Hungergefühl weg. „Fahrig und unkonzentriert“ beschreibt ein enger Freund später, wie er mich an diesem Freitag wahrgenommen hat. „Du warst völlig neben der Spur“, meint er. „An diesem Tag hast du mir mindestens drei Mal dieselbe Geschichte erzählt, ohne es zu bemerken.“ Tatsächlich erinnere ich mich nicht mal ansatzweise daran. Das hat etwas Befremdliches. Tag drei: Abführtag: 62 Stunden ohne Essen. Allmählich weicht die Lethargie und macht Platz für Muskelkater. Im ganzen Körper. Hat mich jemand im Schlaf verprügelt? Earl-Grey-Tee zum Frühstück lindert die Symptome und kurbelt den Kreislauf an. Peter Schwarz rät zu ausreichend Bewegung. „Schließlich wollen wir Fett abbauen und keine Muskeln“, höre ich seine Stimme in meinem Ohr, als ich an der Elbe entlangspaziere. Seine Empfehlung: 10 000 Schritte pro Tag oder 14 Kilometer Radfahren. Wieder zuhause ist es so weit: Das Klistier ruft. Davor hat es mir am meisten gegraut. Nicht umsonst wird doch in Krankenhausfilmen immer mit einer Mischung aus Ekel und Entsetzen weggeschaut, wenn ein Einlauf fällig ist. Doch siehe da: Alles halb so schlimm. Im Gegenteil. Ich fühle ich mich danach deutlich wohler. Irgendwie innerlich aufgeräumt. Peter Schwarz hat also recht mit dem leeren Darm. Ich ärgere mich, mich nicht schon eher überwunden zu haben und sende ihm stolz die Nachricht: Geschafft! Tag vier: das Fasten-High: 85 Stunden ohne Essen. Jetzt passiert, wovor mich der Professor gewarnt hat: Ich stinke aus dem Mund, und zwar nach faulem Ei. Die Gase steigen aus dem Magen auf, weil er keinen Nachschub bekommt. Da hilft nur: trinken, trinken und noch mehr trinken. Sechs Liter pro Tag. Neben dem Gestank schleicht sich aber auch Routine ein. Nach Earl Grey und einem Aufguss mit Ingwer kehren die Lebensgeister zurück. Dann geht es ab in den Wald. Und hier passiert es: Meine Sinne sind schärfer denn je. Ich rieche den Dunst, der in der Luft hängt, die feuchte Erde, das kalkige Wasser im Bach. Der Wald fliegt mir förmlich um die Ohren. Lesen Sie auch Eine App aus Dresden hilft beim Hungern nach Zeitplan Die Eindrücke sind so intensiv, dass ich mich hinsetze. Mich berauschen lasse. Mitten auf dem Weg. Dort sitze ich geschlagene 20 Minuten, überwältigt vom sagenumwobenen Fasten-High. Klingt schräg? Vielleicht. Doch in diesem Moment hat es sich richtig angefühlt. Wie ein psychedelischer Trip. Tag fünf: im Rausch: 110 Stunden ohne Essen. Es ist Montag. Morgens Earl Grey, danach mit dem Fahrrad zur Arbeit. Das dauert doppelt so lang wie sonst. Ist aber auch völlig egal, denn für mich fühlt sich alles magisch an. „Sie klingen viel entspannter und ausgeglichener als am Freitag“, merkt Peter Schwarz bei unserem täglichen Telefonat an. „Ist Ihnen das aufgefallen?“ Ist es: Ich fühle mich leicht und wohlig und aus tiefstem Inneren zufrieden. Mein Kopf ist frei, mein Geist klar. Nichts kann mich aus der Ruhe bringen. Tag sechs: der Arzt als Animateur: 133 Stunden ohne Essen. Morgens Tee, danach Morgensport. Fünf Kilogramm weniger zeigt die Waage an. Heute erstmals kein Schwindel. Inzwischen bin ich zur Frühaufsteherin mutiert. Fünf bis sechs Stunden Schlaf reichen auf leerem Magen. Vorbei sind die Tage, an denen mich mein Wecker wachrüttelte. Der neue Schlafrhythmus gefällt mir. Abends überrollt mich ein Stimmungstief. Massiv. Entnervt jammere ich Peter Schwarz am Telefon die Ohren voll. Wie sich zeigt, brauche ich ihn als Motivationstrainer viel dringender denn als Arzt. Zu meinem Glück liegt ihm diese Rolle. „Denken Sie daran, wie weit Sie schon gekommen sind, und das während der Arbeit! Seien Sie stolz auf sich, Sie haben eine tolle Leistung erbracht!“, motiviert er mich. Am Ende auch dieses Telefonats fühle ich mich besser. Tag sieben: mit dünner Haut: 158 Stunden ohne Essen. Noch 58 weitere Stunden, dann ist es vorbei. Morgens nehme ich einen halben Teelöffel Honig zu mir. Das ist Peter Schwarz’ Geheimtipp gegen das Morgentief sowie depressive Verstimmung. Schmeckt ekelhaft süß, pusht aber ungemein. Trotzdem werde ich zunehmend dünnhäutig. „Versuchen Sie, positiv zu bleiben“, ermuntert mich mein Mentor an diesem Morgen. „Was fällt Ihnen denn sonst an Ihnen auf?“ Gott, was soll mir denn auffallen, abgesehen von meiner miesen Laune? „Wie geht es Ihrer Haut?“, bohrt er nach. Die ist tatsächlich weicher und reiner geworden. Cellulitis an Oberschenkeln und Po ist verschwunden, die Haut seidenweich und die Mitesser an den Nasenfalten schälen sich langsam ab. „Sehen Sie“, sagt Peter Schwarz zufrieden, „halten Sie durch, es lohnt sich.“ Tag acht: Fastenbrechen: 193 Stunden ohne Essen. Nach acht Tagen und nie zuvor konsumierten Mengen Schwarztee breche ich das Fasten. Nach Rücksprache mit meinem Mentor Peter Schwarz ist mein Entschluss am Morgen gefasst. Mein Zehn-Tages-Ziel muss ich kappen: Kein Honig dieser Welt konnte meine depressive Stimmung noch aufhellen. Stundenlang bereite mich auf die erste Mahlzeit vor. So eine Vorfreude hatte ich seit meiner Einschulung nicht mehr verspürt. Aufgekratzt springe ich im Kreis, bereite Apfelmus für den Abend vor und singe laut zur Musik aus dem Radio. Um 17 Uhr ist es endlich soweit: Es gibt Haferbrei mit ungesüßter Sojamilch und einen Esslöffel selbstgemachten ungezuckerten Apfelmuses. 400 Kalorien hat die Portion. Das ist überschaubar. Doch danach bin ich pappsatt. Und befriedigt. Fazit: Essens-Orgasmus als Lohn: Beim Fasten leidet die Selbstwahrnehmung. Dafür richtet sich aber der Fokus aufs Innere – diese Erfahrung ist faszinierend und lehrreich. Denn man nimmt die eigenen Bedürfnisse und Gefühle plötzlich intensiver wahr als zuvor. Dazu kommt eine geistige Klarheit, die man selbst erlebt haben muss, um sie zu verstehen. Zurecht sprechen wissenschaftliche Probanden beim Fasten von einem bewusstseinserweiternden Erlebnis. Nachvollziehbar, dass das für Außenstehende wie ein Tunnelblick wirkt. Vielleicht ist es also doch nicht so verkehrt, sich beim ersten Fastenversuch eine Auszeit vom Alltag zu gönnen. Nach dem Aufbau esse ich knapp zwei Monate lang mehr als sonst. Meine ehemals verkümmerten Geschmacksnerven sind wie neu, alles schmeckt intensiver. Essen macht nun noch mehr Spaß. Und obwohl ich größere Mengen verputze, ernähre ich mich jetzt bewusster und überlege genau, was ich meinem Körper zuführe. Fertigprodukte? Nein, danke. Mein Körper ist schließlich keine Müllhalde – also behandle ich ihn auch nicht mehr so. Appetit und mein Rhythmus haben sich inzwischen auch wieder eingependelt. Übrigens: Die erste Mahlzeit nach acht Tagen Nahrungsentzug war die Krönung dieses Experiments. Der ungesüßte Haferbrei – das wohl langweiligste Essen der Welt – und der Esslöffel Apfelmus haben eine nie zuvor gekannte Geschmacksexplosion auf meinem Gaumen ausgelöst. Alleine für diesen Essens-Orgasmus würde ich jederzeit wieder fasten. Von Sabrina Lösch