100-Jährige aus Dresden: Gertrud Reuner im Porträt für die DNN-Serie

Krieg, Vertreibung, gesellschaftliche und politische Umbrüche und nun auch noch eine globale Pandemie: In den knapp 101 Jahren ihres Lebens hat Gertrud Reuner viele dunkle Momente erlebt. Trotzdem – oder gerade deshalb – blickt sie dankbar und sonnigen Gemüts auf ein erfülltes Leben zurück. Runder Geburtstag im Corona-Jahr 2020: Den runden Geburtstag feierte sie im Corona-Jahr. Mitten in der Pandemie. „Wir hatten wirklich Glück“, erzählt sie mit einem Lächeln auf den Lippen. Die Corona-Schutzverordnung war am 1. Juli, nur wenige Tage vor der Feier, gelockert worden. Bis zu diesem Tag war unklar, ob das Fest mit rund 70 Gästen überhaupt stattfinden kann. „Das hat die Organisation ganz schön spannend gemacht“, sagt Tochter Ulrike. Schließlich zelebrierten sie Gertrud Reuners 100. Geburtstag aber in großer Runde auf der Burg Stolpen. Geboren ist die Wahldresdnerin am 7. Juli 1920 im schlesischen Wlen. Die 101 rückt in greifbare Nähe. „Ich hätte nie gedacht, dass ich so alt werden würde“, sagt Gertrud Reuner. Die Pflicht sei getan. Und alles, was noch kommt, nehme sie dankbar an. „Auch heute ist sie noch das Oberhaupt und die moralische Instanz der Familie“, sagt ihre Tochter über sie. Gertrud Reuner wohnt gemeinsam mit der Familie ihrer Tochter in Kleinzschachwitz. Sie empfindet es als großes Geschenk, zu Hause leben zu können, umgeben von der Familie, Freunden und vielen guten und helfenden Menschen. Zwischen behüteter Kindheit und Vertreibung: „Als Kinder hatten wir ein gutes Leben“, erinnert sich Gertrud Reuner zurück. Ihre Kindheit beschreibt sie als gut behütet. Ihre Eltern besaßen ein Landgut und waren wohlhabend. Die Tochter erzählt, dass ihre Großeltern die Kinder immer zu „Fleiß und Rechtschaffenheit“ angehalten hätten. „Meine Mutter war immer streng zu sich selbst, aber auch zu anderen, sie hat aber nichts von anderen verlangt, was sie nicht auch selbst leisten konnte“, sagt Ulrike. 1934 nahmen ihre Eltern die damals 14-Jährige aus der Schule und schickten sie in verschiedene Anstellungen und zuletzt zum Arbeitsdienst. Mehrere Jahre verbrachte die junge Frau in Schönberg bei Görlitz. Ohne Kontakt zur Familie in Niederschlesien – kriegsbedingt. Als sie von dieser Zeit berichtet, zittert die heute 100 Jahre alte Frau ein wenig. Selbst die Tochter ist davon überrascht. „Das muss eine fürchterliche und prägende Zeit für sie gewesen sein“, sagt sie später. Bombennacht: „Der Himmel färbte sich blutrot“: Ins Gedächtnis gebrannt hat sich der Frau auch die Nacht vom 13. Februar 1945, als Bomben auf die Stadt Dresden niederfielen. Gertrud Reuner saß mit anderen Arbeitskräften im Zug. Ihr Ziel: Dresden. Sie warteten darauf, loszufahren. Doch nichts geschah, der Zug stand still. Die ganze Nacht. „Und der Himmel färbte sich blutrot...“ Das hat die Dresdnerin Gisela Scheibner in den letzten 100 Jahren erlebt Edith Gersten: „Und am Ende war es doch schön“ Gertrud Reuner: „Die Menschheit lernt nicht aus der Geschichte“ Die junge Frau kehrte nach Wleń zu ihrer Familie zurück. Dort bahnte sich bereits das nächste Unheil an. Die Rote Armee hatte den Ort besetzt, die Familie musste nun auf den eigenen Ländereien für andere arbeiten. „Wir hatten keinen Zutritt mehr zu unserem eigenen Wohnbereich“, erzählt Gertrud Reuner seltsam reserviert. Als ob es jemand anderem widerfahren wäre. „Wir wurden enteignet und zur Jahreswende 1946 zu 47 vertrieben mit dem, was wir am Leibe trugen.“ Zwischen alledem habe sie aber auch Fürsorge erlebt unter eigentlich verfeindeten Völkern. „Manchmal haben die Soldaten ihr Brot mit uns geteilt“, erinnert sie sich zurück. Flucht in ein neues, selbstbestimmtes Leben: Über Umwege flüchtete die Familie nach Cämmerswalde. „Es war kalt. Das Essen knapp. Ich weiß, wie es ist, arm und hungrig zu sein“, sagt sie. „Das schlimmste war aber, in der eigenen Heimat nicht willkommen zu sein.“ Darum fühlt Gertrud Reuner mit all jenen Menschen mit, die weltweit auf der Flucht sind, ihre Heimat und somit ein Stück ihrer Identität verlieren. Was sie nicht begreifen kann: „Die Menschheit lernt nicht aus der Geschichte.“ Gertrud Reuner liest für ihr Leben gern. „Schon immer habe ich alles gelesen, was mir in die Finger kam“, sagt sie, wieder deutlich fröhlicher als noch kurz zuvor. Bildung war für sie stets ein hohes Gut. Weil die Arbeit in der Landwirtschaft sie nicht erfüllte, ging sie 1950 nach Dresden. Dort machte sie eine Ausbildung zur Krankenschwester. „Ich war die Älteste von allen und am frühesten aus der Schule gegangen. Darum musste ich viel aufholen, was für die anderen selbstverständlich war“, sagt sie. „Dresden hat mir Wind gegeben“: Über 35 Jahre arbeitete Gertrud Reuner als Krankenschwester in der damaligen Medizinischen Akademie Dresden, etliche Jahre in leitender Position. Mit 65 Jahren ging sie schließlich in Rente. „Dresden hat mir Wind gegeben“, sagt die 100-Jährige. Eine neue Heimat, in der sie willkommen war und ist. Einen Beruf. Neue Begegnungen. Eine sagenhafte Kultur. Hier lernte sie auch die Liebe ihres Lebens, den Vater ihres einzigen Kindes, kennen. Er verstarb in jungem Alter. „Ich habe keine Angst“: Dass sie so alt werden würde, hätte Gertrud Reuner nie zu träumen gewagt. Hat sie irgendwelche Krankheiten? Schneller ginge es, würde sie das aufzählen, was ihr nicht fehle, scherzt sie. Die 100-Jährige ist schwer herzkrank. Vor etlichen Jahren wäre sie fast während einer Hüftoperation gestorben. „Ich hatte bereits das Licht gesehen“, erinnert sie sich. Klingt befremdlich, doch sie nimmt es mit Humor. Der Kopf jedenfalls ist noch fit. Nichtsdestotrotz empfindet sie tiefe Zufriedenheit aus ihrem tiefsten Inneren heraus. Daran ändert auch die Pandemie nichts. „Ich habe keine Angst. Mir tun nur die jungen Leute leid, die unter den Folgen leiden“, sagt sie, die Hände vor sich auf dem Tisch gefaltet. Gertrud Reuners Lebensmotto: „Alle Dinge haben mindestens zwei Seiten und eine davon ist (fast) immer eine sonnige.“ Das Geheimnis ihres langen Lebens seien liebe Menschen, auf die sie sich verlassen kann, gnadenloser Optimismus und unerschöpflicher Humor. Von Sabrina Lösch